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Der Mann von Nebenan

Der Mann von Nebenan

Titel: Der Mann von Nebenan
Autoren: Amelie Fried
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verbringen. Drei Wochenenden pro Monat verbrachte er mit Bernd, und einen Teil der Ferien. Das war zwischen ihnen abgesprochen und vom Familiengericht per Gerichtsbeschluß abgesegnet. Zum »Wohl des Kindes«, wie es so schön hieß. Trotz der sogenannten »gemeinsamen Sorge« war es natürlich Kate, die sich um alles kümmerte. Bernd machte es sich dann an den Wochenenden mit Samuel und seiner neuen Geliebten nett.
    Kate fand all diese Vorgänge rund um die Scheidung absurd. Als könnte man die Liebe zwischen Vater und Kind in kleine Häppchen pressen und auf die Besuchstage verteilen.
    »Wann willst du los?« fragte sie.
    »So gegen neun. Wir wollen zum Rennen.«
    Kate biß sich auf die Lippen. Neun Uhr. Das war für Samuel praktisch mitten in der Nacht. Es mußte ihn sehr zu seinem Vater drängen.
    »Also, dann ruf ihn an«, sagte sie munter und drehte sich um, damit Samuel ihr Gesicht nicht sehen konnte.
    »Mam?«
    Sie drehte sich langsam wieder zurück.
    »Macht es dir was aus?«
    Sie nahm ihn in die Arme, diesmal ließ er es geschehen.
    »Ist schon okay, Sammy.«
    Sie wuschelte ihm durch die verfilzten Locken, die immer weniger nach Botticelli und immer mehr nach Bob Marley aussahen.
    Es war kurz vor halb neun, als Kate am nächsten Morgen das Haus verließ. Auch wenn es ihr nichts ausmachte, sie mußte ja nicht unbedingt dasein, wenn Bernd käme. Sie bereitete das Frühstück für Samuel und küßte ihn zum Abschied.
    Mit ihren leichten Jogging-Schuhen lief sie durchs nasse Gras, vorbei an der Friedhofskapelle, den Hügel runter bis ins malerische Bergbachtal, durch das sich eine kaum befahrene Straße schlängelte. Wo die Sonne noch nicht hinreichte, lag dünner Dunst über dem Boden; die Luft war frisch und der Himmel so blau, daß es fast unwirklich zu sein schien. Wie im Prospekt, dachte Kate und versuchte, etwas zu finden, das den Eindruck der Vollkommenheit störte. Aber sogar der halbverfallene Heuschober am Wegrand fügte sich harmonisch ins Bild.
    Ihre Lunge pumpte gleichmäßig, vier Schritte ein, vier Schritte aus, ihre Beine liefen von alleine, ohne Anstrengung, wie eine Nähmaschine, die Steppstich näht.
    Ihre Beine. Von Kindheit an zu lang, so lang, daß Kate in der Pubertät entschlossen war, sie ein Stück kürzen zu lassen. Sie hatte darüber in einer amerikanischen Zeitschrift gelesen: Ein Stück aus dem Oberschenkel wurde entfernt, der Knochen durchsägt, und die zwei Teile wurden wieder zusammengesetzt. Natürlich waren ihre Eltern dagegen gewesen. Und als sie endlich volljährig war und alleine hätte entscheiden können, hatten diese Beine sie bereits zu einem Star im Hürdenlauf gemacht. Das war das einzige, wofür sie gut waren: Hindernisse zu überspringen. Und ihrem Elternhaus zu entkommen. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie durch die Welt gereist, von Wettkampf zu Wettkampf.
    Und dann stellte sie noch fest, daß Männer auf lange Beine stehen, zumindest solange die restliche Frau ihnen nicht über den Kopf wächst.
    Tak-tarak, tak-tarak machte ihr Herz. Halt die Klappe, dachte Kate und mußte über den Doppelsinn dieser Worte selbst grinsen.
    Die Diagnose damals war der Anfang vom Ende gewesen. Solange sie es nicht gewußt hatte, war sie gelaufen und gelaufen, ohne die geringste Unsicherheit, ohne den kleinsten Zweifel an den Fähigkeiten ihres Körpers. Aber eines Tages, bei einem Routine-Check, war der Begriff zum ersten Mal aufgetaucht: Verdacht auf Herzklappenfehler. Weitere Untersuchungen hatten es dann bestätigt. Als das Wort sich in ihrem Bewußtsein festgekrallt hatte, war es vorbei gewesen mit der Unbefangenheit.
    Sie begann, in sich hineinzuhorchen, auf ihren Herzschlag zu achten, jede Beschleunigung wahrzunehmen. Sie stellte sich ihre Herzklappe vor, die wie eine alte Tür in ausgeleierten Angeln hing und abzubrechen drohte. Die Ärzte beruhigten sie, wenn sie es nicht übertreibe, könne sie ihren Sport weiter ausüben. Aber die Blockade war da. In ihrem Kopf.
    Bald darauf stellte sich ein weiteres Versagen ihres Körpers ein: Bei zu hoher nervlicher Anspannung verlor sie das Bewußtsein. Von da an hieß es ständig: »Reg dich bitte nicht auf!« Man behandelte sie wie ein rohes Ei, und Kate fühlte sich kränker, als sie jemals war.
    Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Sie hatte ihr Tempo gesteigert. Sie mußte laufen. Es war ein körperliches Bedürfnis, wie Essen, Trinken, Schlafen oder Sex. Wenn sie mehr als ein paar Tage nicht lief, verfiel sie
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