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Der Mann von Nebenan

Der Mann von Nebenan

Titel: Der Mann von Nebenan
Autoren: Amelie Fried
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in Lethargie, in einen weitabgewandten, halbbetäubten Zustand von Desinteresse und Müdigkeit, der sie fast lebensunfähig machte. Das Laufen machte ihr nicht mal wirklich Spaß, es war einfach eine Notwendigkeit.
    Sie lief einen Waldweg entlang, die Bäume flitzten rechts und links vorbei. Der Wald lichtete sich, Kate sah Wasser schimmern. Vor ihr lag, zauberhaft und unberührt, ein kleiner See, eigentlich nur ein Weiher.
    »Wie schön!« rief sie vor Begeisterung laut aus.
    »Müssen Sie hier so rumbrüllen?« ertönte eine Stimme.
    Kate zuckte zusammen.
    Rechts von ihr, halb verdeckt vom Schilf, hockten auf einem Steg im Schatten drei Gestalten. Sie trugen Jacken mit hochgeklappten Kragen, eine hatte ihre Kapuze über den Kopf gezogen; Kate konnte die Gesichter nicht erkennen.
    »Was … was tun Sie hier?« stammelte sie.
    Die Gestalt mit Kapuze hielt etwas hoch, das aussah wie eine Angelrute.
    »Wir halten Würmer ins Wasser«, knurrte sie, ohne Kate eines Blickes zu würdigen. Es war die Mutter des Jungen, mit dem Samuel sich geprügelt hatte.
    Die zweite Gestalt kicherte.
    »Vielleicht lernen sie ja schwimmen«, sagte sie und bewegte ihre Angel hin und her.
    Diese Stimme kannte Kate nicht; sie war jung und ebenfalls weiblich.
    »Haltet endlich den Mund«, ließ sich nun die dritte Person vernehmen. Sie klang etwas älter, es war auch eine Frau.
    Kate bog die Schilfhalme zur Seite, um die drei besser sehen zu können.
    »Was ist, wollen Sie hier Wurzeln schlagen?« fragte die erste, die Angel in die Hüfte gestützt wie eine Knarre, zwischen den Lippen einen Zigarillo.
    »Ich geh’ ja schon«, sagte Kate und trat den Rückzug an.
    Die unfreundliche Frau war tatsächlich ihre Nachbarin. Sie wohnte in der Doppelhaushälfte neben Mattuschek. Kate war inzwischen sicher, daß Nellis sie gemeint hatte mit seiner Warnung. Die Frau war ohne Zweifel mit Vorsicht zu genießen.
    Neulich hatte Kate beobachtet, wie sie, vor sich hin murmelnd, im Garten auf und ab ging und dabei eine Flüssigkeit versprühte. Kate, die nach der unerfreulichen Begegnung am ersten Morgen etwas Versöhnliches sagen wollte, hatte sich freundlich erkundigt: »Ist das gegen die Schnecken?«
    Die Nachbarin hatte nur verächtlich geschnaubt: »Über Schnecken können Sie sich mit dem da unterhalten«, und auf Mattuscheks Haushälfte gezeigt.
    »Es tut mir leid wegen neulich«, hatte Kate schnell gesagt und die Hand ausgestreckt. »Ich heiße Kate.«
    »Malise« hatte die Nachbarin gemurmelt, Kates Hand ignoriert und sich verdrückt.
    »Blöde Kuh«, hatte Kate bei sich gedacht. Aber ganz war ihr die merkwürdige Person nicht aus dem Kopf gegangen.
    Malise. Kate hatte sich Gedanken über den ausgefallenen Namen gemacht. Heimlich hatte sie schließlich einen Blick auf das Türschild der Nachbarin geworfen:
    »Hutter« stand darauf. Und darunter: Marie-Luise, Simon, Jakob, David. Malise war also eine Kurzform von Marie-Luise.
    Kate ließ den Weiher hinter sich und lief einen leicht ansteigenden Feldweg hinauf. Sie sah auf die Uhr; genau fünfundvierzig Minuten war sie jetzt unterwegs.
    Die Glückshormone strömten wie eine warme Woge durch ihre Blutbahn. Ihre Beine wurden leicht; bis ans Ende der Welt würde sie jetzt laufen können, aber da vorne war schon die Abzweigung, die zurück ins Dorf führte. Vorher mußte sie noch einen kleinen Bach überqueren. Sie wettete mit sich selbst: Wenn sie es mit weniger als zwanzig Schritten über den Bach schaffte, würde alles gut werden. Samuel und sie würden sich einleben, sie würde bald wieder Flöten bauen und bis dahin ein bißchen Geld mit Musikstunden verdienen. Sie würde Bernd vergessen und irgendwann wieder jemanden kennenlernen. Sie war 35. Das Leben ging weiter.
    Kate konzentrierte sich auf ihre Schritte. Achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig … verdammt.
    Sie kam aus dem Tritt, sprang mit zuwenig Schwung und landete mit einem Fuß im Wasser. Ärgerlich spürte sie, wie ihr Schuh vollief.
    Ach was, sie war überhaupt nicht abergläubisch. Alles nur Unfug, harmlose Spielchen zum Zeitvertreib.
    Damals, als sie alle Fenster des Hochhauses gezählt hatte, hatte es auch nicht gestimmt. Gerade Zahl hieß: Oma lebt weiter. Ungerade Zahl hieß: Oma stirbt. Es waren achtundsechzig Fenster gewesen, und Oma war trotzdem gestorben. Vielleicht hätte sie die Glastür mitzählen sollen.
    Sie lief weiter, mit einem nassen und einem trockenen Schuh, was ein komisches Gefühl von Asymmetrie in ihrem Körper
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