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Zeit der Idioten

Zeit der Idioten

Titel: Zeit der Idioten
Autoren: Bernhard Moshammer
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Wenn man sich Bölling ganz hingibt und unterwirft, kann es wahrscheinlich sogar paradiesisch sein. Das Böllinger Gras riecht nach Gras, und sein Grün ist eines, an dem Maler verzweifeln würden. Aber was soll ich sagen, Unterwerfung und totale Hingabe setzen Phänomene wie Ruhe, Selbstlosigkeit, Genügsamkeit oder Zufriedenheit voraus, und die sind mir so fremd wie einem Terroristen die Nächstenliebe. Womit wir schon beim Thema wären: Ich bin der Mann, der überlebt hat, und ich befinde mich gerade im Gegenteil von Bölling.
    Kurz vor Mitternacht habe ich meinen alten Walkman genommen und bin hierhergelaufen. Die letzte U-Bahn ist um fünfzehn nach durchgefahren. Ich bin dann runter auf die Geleise, ein Stück gegangen und habe mich im Tunnel versteckt. Das hat funktioniert. Verrückt, oder? Aber das hier ist Wien und nicht New York. Immer schön gemütlich, meine Herrschaften. Die haben ihre Kontrollrunden gedreht und ich hab einfach die Luft angehalten. Ich könnte jetzt sofort den blöden Stephansdom in die Luft jagen, wenn ich auch so ein Idiot wäre. Bin ich aber nicht. Ich habe mich für den Stephansplatz entschieden, weil es in dieser U-Bahnstation stinkt, als ob Leichen unter den Rolltreppen oder in die Wände eingemauert wären. Und ich habe mir gedacht, dass das Ganze dann wenigstens einen Sinn hätte. Ich könnte also, indem ich eins werde mit dem Gestank dieser Stadt, der Welt zu ein bisschen mehr Sinn verhelfen. Aber jetzt ganz ehrlich, das Selbstmitleid ist die unterste Stufe der menschlichen Wahrnehmung. Die unterste Stufe, ganz sicher.
    Hier drin ist es so ruhig, dass selbst die ausgefressenen Tauben sich in ihrem degenerierten Treiben zurückhalten. Sonst flattern sie dir skrupellos Dreck und Federn ins Gesicht, schießen auf dich zu wie wahnsinnige Suizidpiloten, bedecken die ganze Stadt mit ihrer Scheiße – was für eine Verschwendung von Leben und Zeit, was für ein Überfluss an Energie. Womit wir schon wieder beim Thema wären. Jessas, ich wollte echt Schluss machen, wirklich! Wollte mich um fünf vor die erste U-Bahn werfen. Wohlgemerkt hätte ich damit niemand anderem Schaden zugefügt. Sicher, der Lenker wäre mit Recht sauer gewesen und ein paar Menschen wären zu spät zur Arbeit gekommen, aber es hätte mit Sicherheit nur mich erwischt. Ich hatte das wirklich vor. Aber dann musste ich pinkeln. Was soll ich sagen – ja, das war es, was mir dazwischengekommen ist. Kein Engel, keine Erscheinung, keine weiße Taube, die zu mir gesprochen hat vom Wert oder von der Würde des Lebens, keine große Erkenntnis oder so. Nicht einmal ein Gedanke oder Einfall – nein, ein banales Körperbedürfnis. Ich kriegte aber meine Hose nicht auf, der Zipp klemmte und zum Runterziehen war sie zu eng. Auch schon egal. Ich ließ es einfach laufen. Klingt dämlich, aber es fühlte sich gut an. Und mir ist es egal, ob irgendwas dämlich klingt, denn mit dem warmen Bach meines Urins setzte auch der Fluss meiner Gedanken wieder ein.
    Jessasmarandjosef!
    Ich bin also hier in der Dunkelheit gestanden, in der totalen Stille – wohlgemerkt in der objektiven Dunkelheit und Stille dieser Welt, denn meine ganz persönliche war bereits wieder erhellt vom Blitz meines poetischen Genies – und habe mir einfach in die Hosen gemacht.
    Und dann hab ich in diese Kassette reingehört und, was soll ich sagen, hört euch das selbst an. Ich verspreche auch, nicht mehr Schluss machen zu wollen. Nie mehr. Ich wollte es auch gar nicht wirklich. Man kennt das ja – diese Versuche, die nur ein Schrei nach Aufmerksamkeit sind oder so. Und ja, ich gebe es zu: Ich wollte eure Aufmerksamkeit. Nicht, dass es mir gut ginge oder mein Vorhaben nicht zumindest für kurze Zeit wirklich ernst gemeint war; in Wahrheit war das wieder nur eine halbherzige, romantischdepressive Verstimmung. Und so etwas ist nur peinlich und idiotisch.

1. MEINE WENIGKEIT
    Der Wiener hat ja keine praktische Ahnung vom Terrorismus.
    Chchchfssschchch … Das Rauschen übertönt fast alles. Die Aufnahme klingt wie Stimmen aus dem Jenseits, nicht dass ich schon welche gehört hätte. Naja, wenn ich ehrlich sein soll, beinahe. Und in gewisser Weise ist das, was dieses Tonband mit zweifelhaftem Sinn erfüllt, auch schon lange tot. Die Kassette eiert noch dazu, aber wenn ihr genau hinhört, könnt ihr einen Beat ausmachen. Das bin ich, wie ich auf meine Gitarre klopfe. Jetzt fange ich zu spielen an. Da war ich vielleicht neun, höchstens zehn. Und dieses
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