Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer
Autoren: Ulrich Schacht
Vom Netzwerk:
Hände verzweifelt in der Luft herumruderten, wie Münder in Gesichtern, die sich an die Stahlstäbe pressten, ihren Schmerz hinausschrien, hinunter in den Ort, den Kameradinnen hinterher: sie nicht zu vergessen, an sie zu denken, um sie zu kämpfen.
     
    Es war das Grauen. Schlimmer als alles, was sie selbst auf der Burg erlebt hatten: ein Schiff vor Augen, das am Versinken war, mit Menschen, die man kannte, schätzte, liebte, in schwersten Prüfungen bewährte Freunde, während man selber in einem Rettungsboot dem Untergang gerade noch entkam. Das Glück, das sie empfanden, der Festung und dem gnadenlosen Regiment, das in ihr herrschte, entronnen zu sein, wurde mit jedem Blick hinauf wie von einer eisernen Faust zusammengepresst. Schon auf der Veranda wusste sie, dass sie dieses Bild nie mehr loslassen würde. Tief eingebrannt ins eigene Bewusstsein, würde es fortan zu den unauslöschlichen Szenen ihres Lebens gehören. Doch jetzt rollte der Zug, in dem sie saß, unaufhaltsam nach Norden, immer weiter fort von der schwarzen Quelle, der die dunklen Szenen wieder und wieder entströmten. Ein Film, für den es dennoch keinen Winkel im Bewusstsein geben würde, der abseitig genug gewesen wäre, ihn irgendwann zu vergessen und so verschwinden zu lassen im Archiv des Unbewussten.
     
    Wer würde sie abholen, wenn sie zu Hause ankam, auf dem Bahnhof erwarten, hinter der Sperre oder davor, die zu passieren man eine Bahnsteigkarte benötigte? Nach dreieinhalb Jahren ihres Heraustretens aus der Zeit der anderen? Würden ihre Kinder sie erkennen, wiedererkennen: die Tochter, die inzwischen fünf war, der Sohn knapp drei? Aber wie sollte
er
sie wiedererkennen, war er doch bis jetzt ohne sie aufgewachsen, bei engen Freunden, die keine Kinder hatten und nun seine Pflegeeltern waren?! Sie selber hatte sie ausgesucht. Wieder stieg Angst in ihr auf, der sehnlichst erwarteten Begegnung |32| nicht gewachsen zu sein, einfach zusammenzuklappen, wenn es so weit war. Schon in ihrem Brief aus dem Stollberger Krankenhaus, den sie noch am 18. Januar, dem Einlieferungstag, geschrieben hatte, hatte sie die Befürchtung geäußert, die Nerven zu verlieren, und deshalb um einen fröhlichen, lustigen, ja verrückten Empfang gebeten, der sie ablenken könnte davon, wegreißen von der Gefühlswoge, die sich schon jetzt vor ihr aufzutürmen, sie zu überrollen begann:
     
    Mutti, meine liebste, beste Mutti! Frei bin ich! Frei und glücklich. Ich kann es nicht fassen. Fühlst Du nicht in dieser Stunde, daß irgendetwas mit mir ist? Mein Gott, ich möchte weinen und lachen und habe Angst vor der Stunde, wo ich bei Euch sein werde, Angst, daß dann die Nerven endgültig versagen. Ich konnte nicht sofort den Weg nach Hause antreten. Am 10. 1. bekam ich 1 schlimme Angina und wurde mit 40 ins Revier gebracht. Nun geht es mir wieder ganz gut, nur das dumme, dumme Herz. Aber ich denke doch, daß ich in den nächsten Tagen reisen kann. Wenn ich fahren kann, dann schicke ich Euch 1 Telegramm, damit ihr mich abholen könnt vom Bahnhof, aber bitte schön mit recht viel Täterätä, damit ich lachen muß. Ich habe Angst, daß ich sonst schon auf dem Bahnhof aus den Latschen kippe. Was wird mein Dorle sagen, wenn ihre Mami jetzt kommt? Ja, mein geliebtes Mädel, nun hat der liebe Gott doch unsere Bitten erhört. Dein Glaube ist schon wichtig, mein geliebtes Kind, wirst Du Deine Mami wiedererkennen? Ich glaube kaum. Und was sagt die Neina? Mutti, ich will jetzt Schluß machen. Ich bin einfach zu durcheinander und kann mich nicht richtig konzentrieren. Der Gedanke will mir eben einfach nicht in meinen Kopf. Gelt, mein Muttel, freust Dich doch auch, daß ich endlich zurückkomme? Seid nun alle tausendmal gegrüßt und geküßt von Eurer bald heimkehrenden Wendelgard und Mami
     
    |33| Heute früh schließlich hatte sie dem Brief noch ein Telegramm folgen lassen: »Komme Sonntagabend 18 00 Uhr = Wendelgard«. Nein, es war ja nicht nur so dahin geschrieben, ob die Mutter etwas Bestimmtes in ihre Richtung gefühlt hätte an jenem 18. Januar, als sie das Gefängnis im
Sanka
als freier Mensch verlassen hatte, um ins Stollberger Krankenhaus eingeliefert zu werden: Die Mutter hatte die Gabe des zweiten Gesichts. Sie hatte sich damit jedoch nie hervorgetan oder gar Kapital daraus geschlagen, sondern das dunkle Talent eher als eine Last empfunden, als Bedrückung. Fürchtete sie sich doch, seit es ihr zum ersten Mal erschien, erneut wieder Dinge zu sehen, die sie nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher