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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily
Autoren: Jürgen Saarmann
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Schälchen, in dem man seine schmückenden Mitbringsel ablegen kann wie Oma ihr Gebiss ... klingt sehr erotisch ... aber eine wunderhübsche Freundin hatte er damals ... was die wohl macht ...ein leicht dunkelhäutiges Mädchen ... davon gab es damals leider noch nicht so viele ... Eurasierin wohl ... doch, die war schon sehr schön ... wie dieser militarisierte Hippie-Verschnitt das wohl fertiggebracht hat ... ich hätte mich damals nicht an sie herangetraut ... eine so extreme Schönheit machte mich schüchtern ... ich kam mir beim Anblick so einer kleinen Göttin augenblicklich wie etwas vor, das nichts tat als stinken, furzen, rülpsen, schneuzen ... und fühlte mich hässlich wie die fliegenbedeckten Innereien im Hinterhof des Fleischers ... Mist, es fängt an zu nieseln ... zehn Minuten brauche ich mindestens noch, auch wenn ich mich beeile ... ob ich mich erst eine Weile unter ein Dach verziehe ... hier an der Bushaltestelle ... nein, da sitzt schon dieser Obdachlose mit seiner zerknautschten Plastiktüte ... der immer vor sich hin brabbelt und manchmal sogar laut losschreit ...schimpft über wer weiß was, man kann kein Wort verstehen ... Verstand und Sprache im Alkohol ertränkt, wahrscheinlich ... nichts gegen ein wenig Alkohol, damit wir uns recht verstehen ... uff! wo kommt denn jetzt der Ball her ... ah, von den Kindern da drüben ... endlich mal Kinder, die nicht vor dem Fernseher sitzen ... fallen fast über ihre Hosen, die Jungs ... und Schuhe ohne Schnürsenkel ... wie kann man da richtig kicken ... haben sie sicher im Fernsehen gesehen, dass man so rumlaufen muss ... weil in den Slums, Mann, und im Knast, wo sowieso nur Schwarze reinmüssen, Bruder ... ein ziemlich schwer begreiflicher Auslöser für modische Solidarität ... aber letztlich geht es ohnehin nur um die Vermarktung von Dreck, den niemand braucht ... unverständliches Sozialgequatsche von Randgruppen geht immer gut ... war bei uns damals ja ähnlich ... das Palästinensertuch ... trug fast jeder, der Palästinenser schreiben konnte ... und die Verehrung von Onkel Ho ... und Patschuli und Henna, pfui Teufel ... zurück mit dem Ding ... mit dem Außenrist ... hat zu wenig Luft ... sieht außerdem aus wie radioaktiver Müll ... hat aber wahrscheinlich die Eltern zweihundert Eier gekostet ... trägt die maschinell aufgedruckte Unterschrift von einem Gangsta-Rapper ... scheiße, jetzt regnet es wirklich ... mein Anzug muss zwar ohnehin in die Reinigung ... aber ich will nicht völlig nass in der Kneipe ankommen ... für den Mantel ist es zu spät ... hole mir womöglich eine Erkältung ... das kann ich im Moment gar nicht brauchen ... zwei Wochen krank ... da kann ich mir bei der Stimmung, die in der Redaktion herrscht, auch gleich selbst kündigen ... au verdammt, ich muss noch die Geschichte für den Pfarrer schreiben ... übermorgen ist Redaktionsschluss ... ob man mit solchen Texten Geld verdienen könnte ... zwei Stunden Arbeit, vierhundert Mark ... können die sich gar nicht leisten ... außerdem müsste ich zum Verkäufer mutieren ... es ginge wieder los mit dem sogenannten Marketing ... allen kundtun, dass ich wunderbare Stories im Akkord produziere ... müsste sie überzeugen, dass auch sie so etwas benötigen ... und gerade bei mir das Richtige finden ... müsste um die Preise feilschen ... und befriedigend ist das ja auch nicht gerade ... ich kann dank meiner Ausbildung zwar mittelmäßig bis mittelgut schreiben ... aber Geschichten für das Bäcker-, Fleischer-, Kirchen- und Dackelzüchterblättchen sind doch eher noch langweiliger ... als irgendwelche edelgestählten, gut geschmierten Roboterstories ... wie diese Dinger sich drehten, wanden, in sich krümmten und verbogen ... sah schon irgendwie unheimlich aus ... wie ein noch nicht ganz fertiges Leben ... wie etwas, was sich müht, richtig lebendig zu sein ... es aber trotz aller Anstrengung nicht hinbekommt ... traurig und unheimlich ... Scheiße ... klar, wie in jeder richtigen Stadt gibt es auch hier für jeden Einwohner einskommadreifünf Hunde ... verdammte Mistbiester, verdammte Kotverteiler ... von den Tanklastern voll Urin gar nicht zu reden ... gibt doch hier auch einen Rinnstein und immer wieder ein wenig Grünfläche ... gleich da drüben könnte man doch schön abladen ... zwei Bäume, vier Sträucher und etwa zwanzig Quadratmeter zerrupften Rasens ... dass die Pflanzen das aushalten ... gilt hier als Park ... für die Gefallenen der letzten dreizehn Weltkriege ...
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