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Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)

Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)

Titel: Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
Autoren: Louise Allen
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1. KAPITEL
 
 
      London, 1819
      M iss Talitha Grey überlief ein Frösteln. Sie riskierte einen Blick nach unten. Der Überwurf aus weißem Leinen, der über ihre Schulter drapiert worden war, reichte zwar bis auf den Boden, bedeckte sie allerdings lediglich auf Vorder- und Rückseite. Ihre nackte Haut darunter wies bereits einen bläulichen Schimmer auf, und Talitha hatte das ungute Gefühl, am ganzen Körper von Gänsehaut entstellt zu sein.
      Resigniert seufzend spannte sie die Finger um den goldfarbenen Bogen in ihrer linken Hand und richtete den Blick wieder auf den Wandschirm aus mottenzerfressenem blauem Brokat, der als Himmel über dem klassischen Griechenland seinen Dienst tat. Wenn sie sich nur genug bemühte, schaffte sie es vielleicht, sich in Gedanken in die Hitze der antiken Sonne zu versetzen. Sie stellte sich vor, wie sie die Strahlen genoss, während der sanfte Hauch warmer Mittelmeerwinde über ihre Haut strich – und nicht die pfeifenden Zugwinde, die durch jede Tür und jeden undichten Fensterrahmen in die Dachkammer eindrangen.
      Talitha ließ ihrer blühenden Phantasie freien Lauf. Die entfernten Klänge einer Hirtenflöte schwebten über Olivenhaine und übertönten den Lärm der streitenden Kutscher unten am Panton Square. Sie konzentrierte sich darauf, den Duft von Holzfeuern und Kiefernwäldern heraufzubeschwören, um den erstickenden Gerüchen nach verstopften Abflüssen und Kohlenfeuern entgegenzuwirken. „Miss Grey! Sie haben sich bewegt!“, ertönte eine gereizte Stimme hinter ihr.
      Sorgsam darauf bedacht, ihre Pose zu halten, und ohne den Kopf zu drehen, erwiderte Talitha: „Ich versichere Ihnen, dass ich das nicht getan habe, Mr Harland.“
      „Etwas hat sich aber verändert“, beharrte der Sprecher. Talitha hörte das Knarren des hölzernen Gerüstes, auf dessen schmale Plattform sich Mr Harland zwängen musste, um an die obere Hälfte der gewaltigen Leinwand zu gelangen. Darauf dargestellt war eine epische Szene aus dem antiken Griechenland, mit der Figur der Göttin Diana im Vordergrund, die dem Betrachter allerdings den Rücken zuwandte. Ihr Blick streifte über die bewaldeten Hügel und entfernten Tempel bis zu der in dunkles Burgunderrot getauchten Ägäis am Horizont.
      Erneutes Knarren, dann ein gereiztes Brummeln – Mr Harland brachte seine Gedanken zum Ausdruck. Über die protestierenden Bodendielen hinweg gelangte der Künstler zu Talitha und betrachtete sie eingehend. „Die Farbe Ihrer Haut hat sich verändert“, stellte er mit leicht tadelndem Unterton fest.
      „Mir ist kalt“, erwiderte Talitha ruhig, noch immer, ohne den Kopf zu bewegen. Frederick Harland, so hatte sie festgestellt, interessierte sich für ihren nackten Körper so viel oder so wenig wie für Farbe, Form oder Beschaffenheit einer Obstschale, einer antiken Urne oder einer Länge Stoff. Sobald seine Muse ihn in den Fängen hielt, war er zerstreut, unaufmerksam und zeitweilig recht gereizt, doch ebenso war er stets freundlich und entlohnte sie gut. Außerdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart sicher, auch wenn sie mit ihm alleine war – ob sie nun Kleider am Leib trug oder nicht.
      „Kalt? Ist denn das Feuer ausgegangen?“
      „Ich denke, es ist heute noch kein Feuer gemacht worden, Mr Harland.“ Talitha wünschte, sie hätte darauf bestanden, dass ein Span ans Feuer gehalten wurde, bevor sie mit der Sitzung begannen, doch ihre Gedanken waren anderen Dingen zugewandt gewesen. Erst als sie ihre Pose eingenommen hatte und der Künstler auf sein Gerüst geklettert war, hatte sie bemerkt, dass es in der hochgelegenen Dachkammer kalt war.
      „Oh. Hmm. Nun gut, zehn Minuten noch, dann beenden wir die Sitzung für heute.“ Wieder ächzten die Dielenbretter, da er sich zurück an seine Leinwand begab. „Ich benötige jedenfalls mehr von diesem Rot für die Hautfarben und Azur für den Himmel. Und Ultramarinblau ist so maßlos überteuert …“
      Talitha hörte nicht weiter zu, wie er vor sich hin murmelte; seine Worte waren sowieso nicht mehr verständlich. Sie hing wieder ihren eigenen Gedanken nach, wobei jetzt eine leichte Sorgenfalte ihre Stirn furchte. Nun ja, zumindest musste sie in dieser Pose nicht auf ihren Gesichtsausdruck achten. Nur die Andeutung ihrer rechten Gesichtshälfte war von hinten sichtbar und ihr langes, leicht gewelltes, hellblondes Haar, das ihr offen bis zur Taille fiel.
      Ihre Füße waren bloß, ihre Stirn zierte ein dünnes,
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