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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily
Autoren: Jürgen Saarmann
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rundherum, sonst niemand unterwegs ... jetzt zuerst ein kaltes Bier vom Fass ...
     
     

3. RULE BRITANNIA I
     
     
    Hi, Theiresias! Lange nicht gesehen. Ich wollte schon längst mal wieder vorbeikommen. Aber du weißt ja, wie das ist. Wie geht es dir? Alles klar? Schule im Griff und so? Was sagst du? Probleme mit deinem Job? Weißt nicht mehr, wozu? Die Lebensbalance ist dir abhanden gekommen. Hm, klingt nach einem Anfall von Midlife Crisis. Na und? Wer kennt das nicht? Mich zum Beispiel werden sie vielleicht bald rausschmeißen. Warum? Weil meinem Chef meine Nase nicht paßt. Und meinst du, ich lasse mich deswegen operieren?
    Weißt du, ich habe mal während des Studiums für eine Firma gearbeitet, die für die Baustellensicherung auf Autobahnen verantwortlich war. Knochenarbeit, kann ich dir sagen. Wir haben die Hinweis- und Umleitungsschilder aufgestellt, die schweren, dicken Kabel für die Beleuchtung verlegt, Baken zusammengebaut, die Autobahn gesperrt, um eine Schilderbrücke aufzurichten. Mann, das war ein Erlebnis! Hunderte von Autos hielten vor uns an, wie eine Herde aufgescheuchter Kühe vor dem Elektrozaun. Nur weil einer von uns dastand und ein Stopsignal gab.
    Allerdings hatten wir auch einen Streifenwagen mit Blaulicht zur Unterstützung. Einen Stau gab das! Bei achtundzwanzig Grad im Schatten. Der Belag der Straße gab die Hitze wie ein Spiegel zurück. Ich hatte Hände wie ein Grubenarbeiter – mit Schwielen, offenen Blasen und den Rückständen des abgewickelten Stromkabels. Das Ding war mindestens so dick wie ein Kinderarm und mit schwarzem Kunststoff überzogen, der dir beim Abrollen Narben in die Finger brannte. Wir haben das damals noch mit der Hand von einer gewaltigen Trommel ausgelegt. Von einem fahrenden Lastwagen herab. Immer herum und raus, kilometerweit.
    Wenn der Fahrer zu schnell fuhr oder der Kabelleger zu langsam war, geriet die hölzerne, zentnerschwere Spindel auf der Ladefläche in eine träge Trudelbewegung und stellte sich schließlich auf. Für den Abwickler war das höchst gefährlich. Hätte leicht zerquetscht werden können zwischen Bordwand und Spindel. Aber es hatte was! Ich denke gerne daran zurück. Harte körperliche Arbeit, braungebrannt von der ständigen Tätigkeit in der Sonne und Hände, mit denen man auch ein brünstiges Wildschwein das Fürchten gelehrt hätte. Und ich mochte meinen Chef. Nach ein paar Wochen wurde es dann natürlich langweilig. So ist es doch mit jedem Job. Man kommt morgens nicht mehr so gut aus dem Bett, die Arbeit ist nur noch eine Schinderei ohne eigentlichen Sinn, das Wetter wird auch schlechter, und der Chef ist ein Arsch.
    Sei nicht so naiv! Spaß macht das nur solange, wie du den Kick brauchst und bekommst. Danach gilt es, einfach weiterzumachen: Du brauchst das Geld, und ein Chef kann so unangenehm nicht sein, dass man seinetwegen aufhört. Es sei denn, es wäre ein Typ, den Nero eingestellt hat. Mann, du bist unkündbar, was schon ein Grund zum Jubeln ist! Ich dagegen kann jederzeit entlassen werden. Aber was die Balance angeht: Kennst du eigentlich Serena? Lass uns noch ein Bier bestellen, geht auf mich! Nur aus der Ferne? Halt! Sag mal, dieser kurzhaarige Typ um die vierzig da hinten in der Ecke. Ja der, der pausenlos seine Filterlosen raucht und emsig in ein Schulheft schreibt. Was ist denn das für einer? Kommt der öfter? Ja? Und macht abends hier die Hausaufgaben seiner Kinder, damit sie morgens was zum Vorzeigen haben, oder was? Weißt du nicht? Komischer Typ. Schaut immer herüber, als würde er uns kennen oder zeichnen wollen, ha ha.
    Na ja, Serena . Kennst sie also vom Sehen. Wusstest du, dass ich mit ihr zusammen war? Ja, genau, das war nach der Zeit mit Wilma. Ich war ja damals völlig ausgebrannt. Ein Wrack, wenn du es genau wissen willst, ein Untoter, der sich noch einigermaßen erinnert, wie er sich im Leben zu verhalten hat, um nicht aufzufallen. Welche Masken wann einzusetzen sind. Aber innen war ziemlich viel tot, gestorben, schuppig von mir abgefallen, einfach nicht mehr aufrufbar. Hast nichts bemerkt, oder?
    Eigentlich erstaunlich, dass man in so einem extrem depressiven Zustand sein Leben irgendwie weiterführen kann, ohne dass einem ständig ein Leichenwagen hinterherfährt. Ich hatte einen Job und auch eine Art privates Dasein, aber meine ganze Welt litt unter einem beklemmenden, dräuenden Himmel, der sich in meinem Kopfinnern fortsetzte. Gespräche taten mir weh, Lachen verursachte mir Pein. Ich musste mir
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