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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena
Autoren: Haley Tanner
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vielleicht genauso groß wie Lena, jedenfalls kleiner als Vaclav. Ihr Haar ist lang, grau oder blond oder ergrauendes Blond, aber sie sieht jung aus, ihr Kinn ist |333| jung, und sie hat einen gerade geschnittenen Pony. Seitlich an den Augen zeigen sich Krähenfüße, als kenne sie das Leben, aber ihr Kinn ist jung. Sie trägt ein schwarzes, ärmelloses Kleid und darüber etwas Tuchähnliches, obwohl sie sich im Haus aufhält. Sie hat Armbänder an, eine Menge Armbänder, rüstungsartig, vom Handgelenk an den halben Unterarm hoch. Sie hat Ringe an den Daumen. Sie lächelt Vaclav an, sie weiß, wer er ist, als sie ihn an der Schulter fasst, umarmt und ins Haus hineinzieht.
    »Vaclav«, sagt sie, als hätte sie ihn erwartet. Sie nimmt ihn bei der Hand. Vaclav wird klar, dass Lena Emily alles erzählt hat.
    »Komm«, sagt sie, »komm.« Sie führt ihn durchs Haus, das eigenartig ist, aber noch normal. Das Haus ist nicht darauf aus, normal auszusehen, überall sieht man sonderbare Gegenstände. Farbenfrohe Stoffreste liegen ringsum verstreut, und nichts passt zusammen, und es hängen so viele Bilder an den Wänden, dass es keinen leeren Platz gibt, aber das Haus sieht dennoch freundlicher aus als seins.
    Die Küche ähnelt in nichts der Küche daheim. Sie ist groß, und auf den Arbeitsflächen stapeln sich Bücher, und es gibt drei verschiedene Blumensträuße in drei verschiedenen Vasen, und von der Decke hängen Töpfe.
    Lena sitzt lesend am Küchentisch. Als sie Vaclav sieht, wird ihr Gesicht starr.
    »Lena«, sagt Emily. »Jetzt bloß nicht dramatisch werden. Bloß nicht wie in
Days of Our Lives
. Benehmen wir uns ganz normal. Er ist hier, weil er dich gern hat. Alles in Ordnung, wir können ein bisschen miteinander reden, okay?« Sie schaut Vaclav an.
    |334| Er zögert und starrt Lena an. Lena trägt eine rosa karierte Pyjamahose und versteckt die Arme in einem zu großen Strickpullover. Sie sieht kleiner denn je aus, so zusammengekauert am Tisch.
    »Ja, ich möchte dir die Wahrheit sagen.«
    Lena kann nicht sprechen.
    »Über deine Eltern. Ich weiß jetzt Bescheid.«
    Lena schaut ihre Mama an wie ein kleines Kind, bei dem es gerade nach einem Bienenstich anfängt zu brennen und zu jucken.
    »Vaclav«, sagt Em, »warum setzt du dich nicht?«
    Vaclav setzt sich auf einen Stuhl, er fühlt sich unbehaglich und weiß nicht, was er mit seinem Gesicht, seinen Händen anfangen soll. Alle bleiben stumm.
    »Ich bin hier, um dir die Wahrheit über deine Eltern zu sagen«, sagt Vaclav, und Lena sieht ihm direkt in die Augen.
    »Ich habe deine Tante, die Schwester deiner Mama, aufgesucht. Die, bei der du gelebt hast, als du klein warst. Sie wohnt immer noch im selben Apartment. Ich erinnere mich, wie nervös ich immer wurde, wenn ich dorthin ging. Sie hat mir alles von deiner Mama und deinem Papa erzählt.«
    Lenas Augenbrauen verraten ihm, wie dringend sie alles wissen will, und auch, wie viel Angst sie gleichzeitig hat. Emily setzt sich an den Küchentisch neben Lena und nickt Vaclav zu.
    »Ich weiß, du wolltest nicht hingehen, und ich weiß, dass du nicht wolltest, dass ich hingehe. Ich weiß, warum du mir nichts davon erzählt hast, und das ist in Ordnung. Ich war da, und alles ist in Ordnung.« Vaclav holt tief Luft.
    |335| Vaclavs Geschichte
    Sie waren Studenten. Deine Mama und dein Papa waren beide Doktoranden an der Moskauer Universität, beide hatten ein Stipendium und sie waren brillant. Deine Tante hat gesagt, jedem sei klar gewesen, dass sie die Intelligentesten waren, man sprach nur noch von ihnen.
    Sie war Wissenschaftlerin und er Dichter. Vom ersten Augenblick an, als sie sich in der Uni-Cafeteria begegneten, haben sie sich geliebt. Sie haben sich durch den Raum hindurch gesehen und sind einfach aufeinander zugegangen. Sie haben es gewusst, auf der Stelle. Sie verließen gemeinsam die Cafeteria, stumm, und dann sahen beide zum ersten Mal überhaupt den Himmel, die Bäume, das Gras und die Kuppeln über den Gebäuden. Im ersten Monat hielten sie sich nur an den Händen, nicht aus Pflichtgefühl oder Respekt oder wegen Idealen oder religiösen Gründen oder um enthaltsam zu sein, sondern weil sie wussten, dass alles andere zu viel und zu schnell wäre, es würde sie zerstören, sie töten, ihnen Herz, Schädel und Fingerspitzen sprengen.
    Natürlich haben sie nicht ewig gewartet.
    Zu dieser Zeit gab es dort ständig Proteste. Studentenproteste, Aufstände gegen die Regierung, gegen die Willkürherrschaft, gegen
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