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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena
Autoren: Haley Tanner
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nicht dazu. Es ist sehr gutes Englisch, aber er gehört einfach |14| nicht dazu. Hier, das ist die Einleitung, die müssen wir versiegeln, damit sie gilt und wir für die Vorführung proben können«, erklärt Vaclav auf Russisch. Mit Lena, seiner Assistentin, spricht Vaclav manchmal Russisch, wenn er ihr etwas Wichtiges sagen will. Lena dagegen antwortet immer auf Englisch, so als wollte sie sich gegen ihn behaupten.
    Lena schaut auf das Feuerzeug, das sie aus der Morgenrocktasche ihrer Tante gestohlen hat. Lena weiß, dass es nicht richtig ist, etwas zu stehlen, es sei denn, man braucht es wirklich ganz dringend, und die Person ist nicht zu Hause und bemerkt nicht einmal, dass etwas fehlt. Beim Stehlen des Feuerzeugs hatte sie Angst gehabt, und es war ein gutes und mutiges Gefühl gewesen. Mit dem Feuerzeug in der Hand fühlt Lena sich sehr mutig und sehr erwachsen.
    »Warum bist immer du der Boss?«, fragt Lena.
    »Erst einmal, ich bin der Zauberer, und du bist die Assistentin. Die Assistentin kommt nach dem Zauberer. Es gibt keine Assistentin ohne Zauberer«, sagt Vaclav.
    »Ohne Assistentin kein Zauberer.«
    »Ich bin ein Jahr älter als du.«
    »Zehn ist nur bisschen mehr als neun Jahre und elf Monate.«
    »Zauberer ist wichtiger als Assistentin, weil   …«, Vaclav schickt sich an, noch etwas zu sagen, um zu bekräftigen, dass er die Macht über Lena haben sollte. Er möchte diesen Streit gewinnen, obwohl er weiß, dass sie ihn immer wieder ausfechten werden. Eine Auseinandersetzung, die dem berühmten Streit zwischen dem Huhn und dem Ei ähnelt: Wer von beiden war zuerst da, und wer ist wichtiger und besser als der andere? Ein Streit, der nie entschieden werden wird, weil es unmöglich ist, |15| zu beweisen, wer zuerst da war oder wer besser ist, wenn in Wirklichkeit beide eins sind.
    Es klopft an der Tür. Lena und Vaclav starren die Tür mit vor Schreck geweiteten Augen an. Es klopft dreimal laut, dann rüttelt jemand am Knauf, doch die Tür geht nicht auf, denn sie ist abgeschlossen.
    Vaclav überkommt Reue. Die Tür abzuschließen war eine blöde Idee gewesen. Eine verschlossene Tür stößt Vaclavs Mutter mit der Nase darauf, dass im Schlafzimmer des jungen Zauberers womöglich etwas Verbotenes im Gang ist.
    »Vaclav! Mach sofort die Tür auf, oder ich mach sie für dich auf! Willst du’s auf die harte Tour oder lieber auf die sanfte?!«
    Lena und Vaclav schieben ihre Zaubersachen unters Bett und verstecken sie hinter dem Bettvolant.
    »Komme ja schon!«, sagt Vaclav und rappelt sich hoch. Kaum entriegelt Vaclav die Tür, springt sie auf und stößt ihn nach hinten.
    Rasias Blick durchforscht das Zimmer. Rasia weiß nicht, was sie eigentlich erwartet, doch immer macht sie sich Sorgen. Jeden Tag eilt sie um zehn nach fünf, so schnell sie kann, nach Hause, weil ihr Sohn größer wird und sich mit jeder Sekunde verändert, und sie hat nur diese wenigen Stunden, um ihn wie Ton zu formen. Nur diese Stunden, um ihm zu zeigen, wie wichtig es ist, die Hausaufgaben zu machen, mit der Familie zu essen, keine Drogen zu nehmen, nicht zu stehlen oder zu faulenzen oder zu betrügen. Sie muss ihn vor Pädophilen schützen, vor Fremden, vor Leuten, die ihn schikanieren könnten, vor Waffen und vor Kohlenmonoxydvergiftung. Sie macht sich Sorgen, weil er nach der Schule in ein leeres Haus kommt. Er ist |16| ein sogenanntes Schlüsselkind und sie eine arbeitende Mutter, und sie wohnen mitten in der Stadt, und Vaclav geht auf eine überfüllte öffentliche Schule, und wenn man die Nachrichten hört, wie sie es gewissenhaft und aufmerksam tut, um darüber auf dem Laufenden zu sein, was demnächst zu befürchten ist, dann können all diese Dinge zu Unglück führen.
    »Mir gefällt nicht, was ich hier sehe. Was geht hier vor, wenn ich nicht zu Hause bin?«
    »Nichts! Wir machen nichts! Hausaufgaben. Wir machen nur Hausaufgaben«, sagt Vaclav.
    »Nichts und drei Stunden lang Hausaufgaben? Das glaube ich nicht. Ich möchte nach dem Essen alle Hausaufgaben sehen.« Rasia geht rückwärts zur Tür und behält Lena im Auge. Sie macht sich um Lena wegen des allgemein bekannten Berufs der Tante Sorgen. Das ist Lena gegenüber unfair und zugleich fair.
    »Okay, nichts und Hausaufgaben und auch vielleicht ein bisschen proben für die Zaubervorführung«, sagt Vaclav. Rasia tritt ins Zimmer zurück.
    »Vielleicht ein bisschen proben für die Zaubervorführung?«
    »Ja, wirklich, wir proben für die Vorführung«, sagt Vaclav und
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