Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena
Autoren: Haley Tanner
Vom Netzwerk:
ihres Sohnes, genau hinzuschauen. Oleg verschränkt die Arme. Er hat |20| Spuren von Schlaf im Gesicht wie tiefe Narben, und oben aus dem Hemd sprießt Brusthaar.
    »Sie können sehen, das Geldstück ist völlig in das Papier eingewickelt.« Lena stellt sich neben Vaclav und streckt die Hände zur Seite aus, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf das geheimnisvolle Papier mit der eingewickelten Münze zu lenken.
    Mit Bedacht lässt Vaclav die in Papier gewickelte Münze von seiner linken in seine rechte Hand gleiten. Er kommentiert diese Bewegung nicht. Lena hebt die Arme steif in die Luft und macht ein paar schnelle Drehungen, bei denen sie gefährlich nahe an die Kante des Couchtischs gerät. Rasia hält erschrocken die Luft an.
    »Ich nehme jetzt meinen Zauberstab, und die Münze wird verschwinden«, sagt Vaclav, wobei er das Geldpäckchen steif in der rechten Hand hält und mit der linken Hand nervös in seine Gesäßtasche fährt. Lena versucht sich an einem Shimmy und schüttelt ihre knochigen Schultern.
    Während Lenas Bauchtanz lässt Vaclav die Hand noch einen Augenblick in seiner Tasche, zieht sie dann lächelnd heraus und zeigt dem Publikum seinen Zauberstab.
    Vaclavs Zauberstab ist eines seiner Spezialutensilien. Es ist ein echter Zauberstab aus einem Laden für Zauberartikel in Manhattan. Seine Mutter ist mit ihm einmal dorthin gefahren. Sie waren mit der U-Bahn mehr als eine Stunde lang unterwegs und mussten zweimal umsteigen. Im Geschäft haben sie den Ladenbesitzer bei der Auswahl des besten Zauberstabs um Hilfe gebeten, und später aßen sie in einem Restaurant zu Mittag, und Vaclav hielt ihn die ganze Zeit auf dem Schoß.
    |21| Mit ebendiesem Zauberstab tippt Vaclav dreimal auf das Päckchen.
    »Abrakadabra!«, sagt er beim letzten Antippen, »das Geldstück ist verschwunden!«
    »Lena«, sagt er, »meine reizende Assistentin, sei bitte so freundlich und nimm diesen Umschlag und zerreiß ihn in zwei Teile.« Lena nimmt das Päckchen und reißt das Papier mühelos entzwei. Dann zeigt sie dem Publikum die Fetzen, und sobald die Zuschauer sich vom Verschwinden der Münze überzeugt haben, wirft sie sie in die Luft, um die Wirkung zu steigern.
    Vaclav und Lena verbeugen sich, sodass das Publikum weiß, dass geklatscht werden darf.
    »Fantastisch!«, sagt Rasia, obwohl sie sich nicht sicher ist, welcher Teil des Zaubertricks denn nun eigentlich der Trick war. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie nicht hätte sehen sollen, wie Vaclav die Münze aus dem Päckchen in seine offene Hand kippte, und auch nicht, wie er die Münze in seine Tasche steckte, als er den Zauberstab hervorholte.
    Vaclav und Lena verbeugen sich erneut.
    »Bravo!«, sagt Rasia. Vaclav und Lena steigen vom Couchtisch.
    »Wo ist mein Vierteldollar?«, fragt Oleg.
    »Ein Zauberer verrät niemals seine Geheimnisse«, sagt Vaclav.
    »Oleg«, mahnt Rasia und will damit sagen: ›Frag nicht weiter nach dem Vierteldollar.‹
    »Danke«, sagt Vaclav. »Ich bin froh, dass es Ihnen gefallen hat. Lena und ich werden es für Fans am Samstag auf der Strandpromenade in Coney Island vorführen.« Vaclav strahlt.
    »Vaclav«, Rasia atmet tief durch. Sie hat bis jetzt versucht, |22| diese Idee einer Vorführung in Coney Island zu ignorieren, aber ihr Sohn hat sie nicht vergessen, und er wird das auch in Zukunft nicht tun. Er ist hartnäckig. Er weiß nicht, dass das Ganze eine sehr schlechte Idee ist.
    »Das ist keine so gute Idee«, sagt sie.
    »Warum?«, fragt Vaclav.
    »Ist einfach so.« Wie kann sie ihm die Wahrheit sagen? Sie kann ihm nicht sagen, dass die Betrunkenen und die Teenager in Coney Island ihn auslachen werden. Sie kann ihm nicht sagen, dass er sich blamieren wird. Sie kann ihm nicht sagen, dass niemand klatschen, dass niemand »Ah« und »Oh« rufen wird.
    »Warum?«, fragt Vaclav.
    »Es ist zu gefährlich.« Das kommt womöglich der Wahrheit am nächsten, denkt sie. Es ist nicht sicher da draußen in der Welt für Vaclav, dessen Augen empfänglich für alles sind und der das Herz auf der Zunge trägt und seine Träume in den Händen, bereit, sie zu zeigen und zu erzählen.
    »Das ist nicht fair! Wir müssen für die Show proben, für
echtes
Publikum!«, schreit er. Das ist in Ordnung, sagt sie sich, soll er denken, dass sie die gemeinste Person auf der Welt ist. Soll er denken, dass sie ihm seine Zauberei nicht gönnt.
    »Mein letztes Wort. Ich diskutiere nicht mehr darüber«, sagt sie.
    »Ich kann es nicht fassen!«, sagt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher