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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena
Autoren: Haley Tanner
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persönliche Einladung?« Das Zetern erschreckt Lena, und sie versenkt den Löffel in den Borschtsch.
    »Sie ist so dürr wie Straßenkinder in Indien. Das ist nicht hübsch, nur Haut und Knochen!«, sagt Rasia und schlürft dann den Borschtsch.
    Lena kommt warm der Mageninhalt hoch und füllt ihren Mund. Sie steht vom Tisch auf, denkt, sie kann es vielleicht noch bis ins Badezimmer schaffen, wo niemand sie sieht und sie ihren Mund ausspülen und danach zum Tisch zurückkehren wird, vielleicht mit etwas geröteten Wangen, doch ohne dass jemand etwas mitkriegt. Sie denkt, das Bad ist so nah, das Bad |26| ist so nah, und wenn sie es nur schafft, den Mund geschlossen zu halten, wird alles gut gehen. Aber dann stößt sie noch einmal auf, mehr Mageninhalt kommt ihr hoch, und sie kann ihn nicht im Mund halten, wie sie gehofft hat. Er platzt heraus auf ihr T-Shirt und auf den Boden, und sie ist gerade mal drei Schritte vom Esstisch entfernt.
    Rasia eilt zu ihr, während Oleg die Serviette auf den Tisch wirft und seinen Stuhl nach hinten schiebt. Rasia macht einen runden Rücken, als sie ihren großen weichen Arm um Lena legt und das zitternde Mädchen zum Badezimmer führt. Oleg nimmt sein großes Glas und geht ins Wohnzimmer, um sich auf der Couch niederzulassen und sich im Großbildfernseher russische Seifenopern anzusehen. Sobald er sein Glas ausgetrunken hat, wird er zu schnarchen beginnen, und er wird so lange auf der Couch schnarchen, bis es Zeit ist, im Schlafzimmer zu schnarchen.
    Vaclav zieht die Füße auf seinen Stuhl, um sie von dem Erbrochenen fernzuhalten, und blickt auf den Boden. Das Erbrochene von Lena ist anders als seines. Sein Erbrochenes – hinter der Schaukel an der Schule, wenn er zu viel gegessen und zu wild geschaukelt hat – ist dickflüssig und hat oft die Farbe von Borschtsch. Lenas Erbrochenes ist wie der Meeresschaum am Strand von Coney Island, blasig, abgestanden und nicht mal so gelb wie Pisse.
    Vaclav steht auf, darauf bedacht, nicht in das reizende Erbrochene seiner reizenden Assistentin zu treten, und greift nach einem Spüllappen, um Lenas Klacks aufzuwischen.
    Im Badezimmer betupft Rasia Lenas Gesicht mit einem feuchten Waschlappen. Sind Lenas Augen wirklich so dunkel |27| und riesig, fragt sich Rasia, oder wirken sie nur so, weil ihre Haut so blass, ihr Gesicht so klein und zart ist? Lena sitzt auf der Toilettenbrille und hält ihr besudeltes T-Shirt zusammengeballt in den Händen. Während sie Lenas verängstigtes Gesicht säubert, beschließt Rasia, Lenas T-Shirt zu waschen und zu trocknen und den Vorfall bei der Tante nicht zu erwähnen.
    Rasia fragt sich, ob jemand mit Lena über Mädchensachen geredet hat, wie sie es täte, wenn sie eine Tochter hätte. Sie fragt sich, ob Lena die Tante eines Tages um einen Trainings-BH bitten wird, um ihre Brüste dazu zu bringen, das zu tun, was Brüste tun sollen, oder ob sie ihr Taschengeld sparen und allein zum Kaufhaus gehen muss. Rasia fragt sich, ob Lena es vermisst, eine Mutter zu haben, und sagt sich dann, was für eine dumme Frage. Das ist doch selbstverständlich. Ihr Verstand tut sich schwer, Lena zu begreifen, und ihr Herz ist von Mitleid überwältigt. Rasia bittet Lena, im Badezimmer zu warten, während sie ein sauberes T-Shirt holt. Lena sitzt auf der Toilette, ohne T-Shirt , die Arme vor der Brust gekreuzt, und starrt auf die Kacheln.
    Was Rasia nicht sicher weiß, das ahnt sie
    Als Rasia Lena nach Hause bringt, bemerkt sie, dass Lena ihre Hand fester als gewöhnlich hält. Vielleicht bildet sie sich das auch nur ein. Es kommt Rasia auch so vor, als sei Lena dünner als sonst, aber bei Kindern ist das schwer zu sagen.
    |28| Als Rasia die Tür öffnet, um Lena hineinzulassen, das Licht anmacht und sich umschaut, gibt es keinen Zweifel, dass alles genauso ist wie am Abend zuvor. Nach Rasias Einschätzung ist die Tante nicht zu Hause gewesen und hat das Durcheinander weder aufgeräumt noch vergrößert. Lena ist allein gelassen worden. Rasia hat keinen Zweifel, dass das hier kein Zuhause für ein kleines Mädchen ist. Dessen ist sie sich ganz sicher, und dieses Wissen zu ertragen ist schwer.
    Vaclavs Traum
    Vaclav wacht früh auf, ohne dass sein Wecker läutet. Heute ist er felsenfest entschlossen, die Kampagne für die Erlaubnis einer Zaubershow in Coney Island zu gewinnen.
    Noch im Pyjama setzt er sich an den Schreibtisch in seinem Zimmer, nimmt seinen Thesaurus und beginnt eine Liste:
    Nachweis von Vaclavs Vertrauenswürdigkeit
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