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Vaclav und Lena

Vaclav und Lena

Titel: Vaclav und Lena
Autoren: Haley Tanner
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wissen möchte, denkt er.
    »Ich weiß nichts. Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«
    »Darum geht es mir nicht. Mir geht es um die Zeit davor. Als sie bei Ihnen gelebt hat.«
    »Darüber spreche ich nicht«, sagt sie.
    Er weiß, dass sie nicht über den Mann, den Freund, sprechen wird.
    »Davor«, sagt er. »Bevor sie wegging. Mir geht es nicht um das eine da. Ich möchte wissen, was mit Lenas Eltern passiert ist. Mit ihrer Mutter. Ihrem Vater. Wie sie hierhergekommen ist.«
    »Warum willst du das wissen?«
    »Sie möchte es wissen«, stellt er richtig. »Lena möchte es wissen.«
    »Und du gibst ihr, was sie möchte.« Wie kommt es, denkt Vaclav, dass Leute wie Prostituierte, verrückte Straßenpenner, Obdachlose in der U-Bahn manchmal sofort auf die Wahrheit stoßen?
    |319| »Warum kommt sie nicht selbst hierher und besucht mich?«, fragt Trina. Ist das nicht für jeden offenkundig, warum Lena nicht hierher zurück will?
    »Sie weiß nicht, dass ich hier bin.«
    Die Tante nickt. Er scheint alle ihre Voraussetzungen erfüllt zu haben, jetzt kann sie ihm die Geschichte erzählen. Sie hat sich entschieden, wird ihn aber warten lassen. Vaclav sieht, dass es sie zwar drängt, die Geschichte zu erzählen, aber nur zu ihren Bedingungen.
    Trina kennt sich vom Strippen her mit Verhandlungen und mit Machtkämpfen aus. Sie weiß, wie man einem Kunden alles auf eine bestimmte Art und Weise gibt, was er haben will, sodass dieser, wenn sie es endlich tut, wünscht, er könnte es ihr wieder zurückgeben.
    Sie zündet sich noch eine Zigarette an, wobei sie die Beine streckt, um dann wieder mit verschränkten Beinen auf der Couch zu sitzen, und befingert ihr blondiertes Haar. Er soll sich unbehaglich fühlen, und das gelingt ihr. Er entschließt sich zum Reden.
    »Wo sind Lenas Eltern?«
    »Tot«, sagt sie, ohne zu zögern. Sie sagt es laut, in bösem Ton, und es rüttelt ihn auf.
    »Wo?«, fragt er.
    »Was soll ’n das heißen ›wo‹?«, sagt sie und findet das komisch. »Sie sind tot! Es gibt keinen Ort, das hat nichts mit Erdkunde zu tun, oder? Wenn man erst tot ist, ist man nirgends oder überall, klar?«
    »Ich meine, wo sind sie gestorben? Hier? In Brooklyn?«, fragt Vaclav. Sie lächelt.
    |320| »Du hast aber auch gar keine Ahnung.« Wie sollte er eine Ahnung haben? Natürlich hatte er keine. Sie verspottet ihn, und er hasst sie dafür.
    »Sie sind nie hier gewesen. Sie sind in Russland gestorben. Beide.«
    »Wie ist es passiert?«
    »Hör mal, wenn du auf Romeo-und-Julia-Kram aus bist, den kriegste nich. Sie war’n nie zusammen. Sie haben bloß miteinander gefickt. Das hat gereicht, um Lena zu machen und ein paar Laken zu beschmutzen. Nicht mal seinen Nachnamen hat sie gekannt.«
    »Sie haben sich nicht geliebt?«, fragt er und fängt an zu begreifen. Viele seiner Annahmen sind also falsch. Und schon verbietet sich das Ganze als Lösung, als eine Geschichte, die er Lena wie einen Valentinsgruß anbieten könnte.
    »Sie waren high«, sagt sie.
    »Was meinen Sie damit?«
    »Sie waren Junkies, weißt doch, was das ist? Sie war’n Kriminelle. Junkies. Sie hat den Männern einen geblasen, im Auto und auf der Straße, für Drogen und für Geld. Und gestohlen, sie hat Sachen geklaut. Dafür ist sie umgebracht worden. Das war ’n Leben auf der Straße.«
    »Sie ist auf der Straße umgekommen?«
    »Sie ist im Gefängnis umgekommen.«
    »Es tut mir leid«, sagt er und hasst den Klang der Worte, denn er hatte sie eigentlich wie ein Fernsehdetektiv befragen wollen, so als habe sie die Information, die eigentlich ihm gehöre, und er würde sie schon aus ihr herausholen. Stattdessen aber schmeichelt er sich bei ihr ein, ist nett, entschuldigt sich, das |321| Ganze ist wieder mal typisch für ihn. »Bitte erzählen Sie mir das von Anfang bis Ende. Ich muss die ganze Geschichte erfahren. Bitte.« Sie nickt.
    »Okay, okay, das ist nur fair. Ich beginne von vorn. Das war eine schlimme Zeit in Russland. Wann? 1991? Nein, Lena ist 1993 geboren. Das Land war am Auseinanderbrechen, mit jedem Tag löste sich die Regierung weiter auf. Alles war Chaos. Es gab nichts zu essen, keine Jobs und überall Kriminalität, und mit der Rationierung von allem hatte jeder, na, wie sagt man noch, Dreck am Stecken. Man zahlt für dies und bekommt das, man zahlt mit Wodka, mit Ficken, mit was immer. Okay?«
    »Alle korrupt?«, sagt Vaclav.
    »Genau. Da gab es nix. In unserer Familie gab’s nur Elend und Versagen. Unser Vater konnte nich arbeiten, und
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