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Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Titel: Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Autoren: Bree Despain
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wurde.

KAPITEL 2
Leere Versprechungen
     
    Nächster Tag, vierte Stunde
     
    Meine Mutter hatte so eine komische Regel, was Geheimnisse betraf. Als ich vier war, hatte sie mich beiseite genommen und mir eingeschärft, dass ich niemals ein Geheimnis für mich behalten dürfe. Ein paar Minuten später war ich zu Jude marschiert und hatte ihm verraten, dass meine Eltern vorhatten, ihm eine Lego-Burg zum Geburtstag zu schenken. Jude hatte zu weinen angefangen, und Mom hatte sich zu mir gesetzt und mir erklärt, dass es sich bei einer Überraschung um etwas handele, wovon letztlich jeder erfahren würde, ein Geheimnis aber etwas sei, das niemand jemals herausfinden sollte. Sie sah mir in die Augen und sagte in diesem durch und durch ernsthaften Ton, dass Geheimnisse etwas Falsches seien und niemand das Recht habe, mich darum zu bitten, ein Geheimnis zu bewahren.
    Ich wünschte, ihre Regel hätte auch für Versprechen gegolten.
    Es gibt ein Problem mit Versprechen: Hat man einmal eins abgelegt, so ist es dazu bestimmt, gebrochen zu werden. Es ist wie ein ungeschriebenes kosmisches Gesetz. Wenn Dad zum Beispiel sagt: »Versprich mir, dass du nicht zu spät zum Abendgebet kommst«, so hat mit Sicherheit das Auto eine Panne, oder deine Armbanduhrbleibt wie durch ein Wunder stehen, und da deine Eltern sich weigern, dir ein Handy zu geben, kannst du auch nicht mal eben anrufen und ihnen mitteilen, dass du dich verspätest.
    Ganz im Ernst: Niemand sollte das Recht haben, dir das Einhalten eines Versprechens abzuverlangen – insbesondere, wenn er oder sie dabei nicht alle Fakten einkalkuliert.
    Es war total unfair von Jude, mir das Versprechen abzunehmen, überhaupt keinen Kontakt mehr mit Daniel zu haben. Er hatte dabei vergessen, dass Daniel jetzt wieder auf unserer Schule war. Er hatte nicht dieselben Erinnerungen wie ich. Ich hatte gar nicht vorgehabt, wieder mit Daniel zu reden, das Problem dabei war jedoch: Ich hatte Angst davor, was ich vielleicht tun würde, gerade
weil
Jude mir das Versprechen abgenommen hatte, nicht mit Daniel zu reden.
    Die Angst nahm mir fast den Atem, als ich draußen vor der Tür zum Kunstraum stand. Meine verschwitzte Handfläche glitt am Türknauf ab, als ich versuchte, ihn herumzudrehen. Schließlich stieß ich die Tür auf und blickte zum Tisch in der ersten Reihe.
    »Hallo, Grace«, sagte jemand.
    Es war April. Sie saß direkt neben meinem leeren Platz und ließ ihre Kaugummiblase platzen, während sie ihre Pastellkreiden auspackte. »Hast du gestern Abend die Dokumentation über Edward Hopper gesehen, die wir uns anschauen sollten? Mein DVD-Player hat seinen Geist aufgegeben.«
    »Nein, ich hab’s verpasst.« Ich sah mich im Raum nach Daniel um. Lynn Bishop saß in der letzten Reihe und quatschte mit Melissa Harris. Mr Barlow werkelte am Schreibtisch an seiner neuesten ›recycling-freundlichen‹ Skulptur herum, und ein paar Schüler trudelten gerade kurz vor dem Klingelzeichen im Klassenraum ein.
    »Oh Mist, glaubst du, dass wir vielleicht einen Test schreiben?«, fragte April.
    »Wir sind hier im Kunstunterricht. Wir malen Bilder und hören dabei klassischen Rock.« Ich checkte noch mal den Raum ab. »Ich bezweifle, dass es hier Tests gibt.«
    »Hey, du bist aber heute ganz schön mies drauf.«
    »Tut mir leid.« Ich nahm meinen Werkzeugbehälter aus der Ablage und setzte mich auf den Platz neben April. »Mir geht momentan viel durch den Kopf.«
    Meine Baum-Zeichnung lag ganz oben in dem Behälter. Ich versuchte, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich sie hasste. Ich war sicher, dass ich sie in Stücke reißen und wegwerfen sollte. Doch stattdessen nahm ich sie in die Hand und verfolgte die perfekten Linien, wobei meine Finger gerade so über dem Papierbogen schwebten, dass ich die Kohlestriche nicht verwischte.
    »Ich verstehe nicht, wieso dir überhaupt was an ihm liegt«, sagte April – zum sechsten Mal seit gestern. »Hast du nicht gesagt, dieser Daniel sei ein scharfer Typ?«
    Ich starrte auf meine Zeichnung. »Das war er mal.«
    Mit leichter Verspätung ertönte das Klingelzeichen. Ein paar Sekunden später öffnete sich quietschend die Tür. Ich blickte auf und hoffte, Daniel zu sehen. Genauso, wieich damals gehofft hatte, ihm unversehens im Einkaufszentrum zu begegnen oder ihn irgendwo in der Stadt um eine Ecke biegen zu sehen, nachdem er so einfach verschwunden war.
    Doch es war Pete Bradshaw, der zur Tür hereinkam. In der vierten Stunde half er immer im Sekretariat aus.
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