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Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Titel: Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Autoren: Bree Despain
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herumzukritzeln.
    Ich war von seiner Dreistigkeit ziemlich schockiert, konnte jedoch kaum glauben, mit welcher Eleganz er die Kohlezeichnung durch ein paar feine Linien hier und ein paar dicke Striche dort zu einem eindrucksvollen Astwerk verwandelte. Derselbe Baum, an dem ich mich die ganze Woche über verzweifelt abgemüht hatte, wurde auf dem Blatt Papier plötzlich zu Leben erweckt. Er benutzte die Spitze seines kleinen Fingers, um die Kohle am Rand des Baumstammes zu verwischen – ein absolutes »So machen wir es nicht« in Barlows Klasse –, doch dieser grobe Eingriff ließ die Borke des Baums genau richtig aussehen. Ich sah zu, wie er an der Unterseite der Zweige eine Schattierung anbrachte, und dann fing er auch noch an, eine Verästelung am untersten Zweig zu bearbeiten. Woher konnte er bloß wissen, wie sie aussehen musste?
    »Hör auf«, sagte ich. »Es ist meine Zeichnung, gib sie mir zurück.« Ich griff nach dem Papierbogen, doch er zog ihn weg. »Her damit!«
    »Küss mich«, sagte er.
    Ich hörte, wie April aufheulte.
    »Wie bitte?«, fragte ich.
    Er beugte sich über die Zeichnung. Sein Gesicht war noch immer von zotteligen Haaren verdeckt, ein schwarzer Anhänger aus Stein lugte unter dem Kragen seines T-Shirts hervor. »Küss mich, und ich geb sie dir zurück.«
    Ich griff nach seiner Hand, die den Kohlestift festhielt. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
    »Dann erkennst du mich also nicht wieder?« Er blickte auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Seine Wangen waren blass und eingefallen. Der Anblick seiner Augen hingegen verschlug mir den Atem. Dieselben dunklen Augen, die ich immer ›Schlammtörtchen‹ genannt hatte.
    »Daniel?« Ich ließ seine Hand los. Der Kohlestift fiel klirrend auf den Tisch. Eine Million Fragen jagten gleichzeitig durch mein Gehirn. »Weiß Jude, dass du hier bist?«
    Daniel legte die Finger um den schwarzen Anhänger, der an seinem Hals baumelte. Seine Lippen öffneten sich leicht, so als ob er sprechen wollte. Doch dazu kam es nicht.
    Mr Barlow stand vor uns und hielt die Arme vor seiner fassartigen Brust verschränkt.
    »Ich hatte Sie doch gebeten, sich beim Vertrauenslehrer zu melden, bevor Sie hier am Unterricht teilnehmen«, sagte er zu Daniel. »Wenn Sie meinen Wunsch nicht respektieren können, junger Mann, dann gehören Sie vielleicht nicht hierher.«
    »Ich wollte gerade gehen.« Daniel schob seinen Stuhl zurück und verbarg sich hinter mir. Sein gefärbtes Haar fiel noch immer über seine Augen. »Bis später, Gracie!«
    Ich blickte auf die Kohlezeichnung, die er liegen gelassen hatte. Die schwarzen Linien verschlangen sich zur Silhouette eines einzelnen, mir sehr vertrauten Baumes. Ich stürzte an Mr Barlow und den Schülern vor der Tür vorbei in den Flur hinaus. »Daniel!«, rief ich. Doch der Korridor war leer.
    Daniel hatte Talent, wenn es ums Verschwinden ging. Das konnte er am besten.
     
    Abendessen
     
    Ich lauschte den Messern und Gabeln, die auf den Tellern herumklirrten, und fürchtete mich vor meinem Beitrag zum berüchtigten Tagesritual der Familie Divine – dem ›Und was hast du heute so gemacht?‹-Bestandteil des Abendessens.
    Dad war zuerst an der Reihe. Er war ziemlich beschäftigt mit der Spendenaktion der Gemeinde. Ich bin sicher, dass es eine willkommene Abwechslung für ihn war. In letzter Zeit hatte er sich so oft in seinem Arbeitszimmer verkrochen, dass Jude und ich schon witzelten, er würde wohl versuchen, seine eigene Religion zu gründen. Mom berichtete von ihrem neuen Assistenzarzt in der Klinik und erzählte, dass James im Kindergarten die Worte ›Erbsen‹, ›Apfel‹ und ›Schildkröte‹ gelernt habe. Charitykonnte vermelden, dass sie eine Eins für ihre naturwissenschaftliche Prüfung bekommen hatte.
    »Ich konnte fast alle meine Freunde überreden, Mäntel und Jacken für die Kleiderspende abzugeben«, verkündete Jude, während er James’ Hackbraten in kleine, mundgerechte Häppchen zerteilte.
    Ich war keineswegs überrascht. Einige Leute in Rose Crest behaupteten, dass Judes Gutherzigkeit nur Schauspielerei sei, doch er war wirklich ein guter Mensch. Ich meine, wer käme sonst auf die Idee, die Freizügigkeit des letzten Schuljahrgangs gegen ein Selbststudium in der Gemeinde einzutauschen, und das an drei Nachmittagen der Woche? Oder das Hockey-Auswahlteam und all die Freunde dort sausen zu lassen, weil er nicht bereit war, die erforderliche Aggressivität an den Tag zu legen?
    Manchmal war es
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