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Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Titel: Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Autoren: Bree Despain
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immer noch.«
    Ich wollte irgendetwas Schnippisches erwidern wie
Guck dich doch selbst an
, zumal er kaum ein Jahr älter war als ich. Mir war jedoch klar, dass er es nicht böse gemeint hatte. Ich wünschte mir nur, Jude hätte endlich kapiert, dass ich fast siebzehn war. Schon seit fast einem Jahr war ich mit Jungs ausgegangen, und Auto fahren konnte ich auch schon.
    Kalte Luft zog durch meinen dünnen Baumwollpulli. Ich wollte gerade reingehen, als Jude meine Hand nahm. »Gracie, würdest du mir etwas versprechen?«
    »Was denn?«
    »Wenn du Daniel das nächste Mal siehst, versprichst du mir, nicht mit ihm zu reden?
    »Aber …«
    »Hör mir zu«, sagte er. »Daniel ist gefährlich. Er ist nicht mehr derselbe Mensch, der er mal war. Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst.«
    Ich kreuzte die Finger unter den Falten der Decke.
    »Ich meine es ernst, Grace. Du musst es mir versprechen.«
    »Okay, in Ordnung. Ich verspreche es.«
    Jude drückte meine Hand und blickte in die Ferne. Es schien, als reiche sein Blick eine Million Meilen weit weg, doch ich wusste, dass er auf dem verwitterten Walnussbaum ruhte, der unser Grundstück von dem unseres Nachbarn trennt. Dieser Baum war es, den ich im Kunstunterricht zu zeichnen versucht hatte. Ich fragte mich, ob Jude wohl an die Nacht vor drei Jahren zurückdachte, als er Daniel zum letzten Mal gesehen hatte. Das letzte Mal, dass ihn überhaupt jemand von uns gesehen hatte.
    »Was ist geschehen?«, flüsterte ich. Es hatte lange gedauert, bis ich mich traute, diese Frage zu stellen. Meine Familie hatte so getan, als sei gar nichts gewesen. Doch
gar nichts
konnte nicht ausreichend erklären, wieso Charity und ich für drei Wochen zu unseren Großeltern geschickt worden waren. Familien hörten nicht einfach auf, über etwas zu reden, was
gar nichts
war. Und
gar nichts
konnte auch nicht die schmale weiße Narbe über dem linken Auge meines Bruders erklären – ähnlich denen auf seiner Hand.
    »Man soll den Toten nichts Böses nachsagen«, murmelte Jude.
    Ich schüttelte den Kopf. »Daniel ist nicht tot.«
    »Für mich schon.« Judes Gesicht war ausdruckslos. So hatte ich ihn noch niemals reden gehört.
    Ich sog einen Hauch der kalten Luft ein und starrte ihn an, wünschte mir, die Gedanken hinter seinem versteinerten Ausdruck lesen zu können. »Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst?«
    »Nein, Gracie. Das kann ich überhaupt nicht.«
    Seine Worte trafen mich. Ich zog meine Hand weg. Ich wusste nicht, wie ich sonst hätte reagieren sollen.
    Jude stand auf. »Lass es gut sein«, sagte er sanft und legte die Decke um meine Schultern. Er lief die Stufen hinauf, und ich hörte, wie die Fliegengittertür klickend ins Schloss fiel. Das bläuliche Licht des Fernsehers flackerte durch das Vorderfenster.
    Ein großer schwarzer Hund trottete über die verlassene Straße. Er blieb unter dem Walnussbaum stehen undblickte in meine Richtung. Die Zunge hing ihm hechelnd aus dem Maul. Seine Augen ruhten auf mir, funkelten bläulich. Meine Schultern fielen zitternd herab, und ich lenkte meinen Blick auf den Baum.
    Kurz vor Halloween hatte es schon geschneit, doch ein paar Tage später war alles wieder weggeschmolzen gewesen. Bis Weihnachten würde es jetzt wohl kaum wieder schneien. In der Zwischenzeit würde auf unserem Grundstück alles braun und gelb und verkrustet bleiben, mit Ausnahme des Walnussbaums, der im Wind knarrte. Er war weiß wie Asche und wirkte im Licht des Vollmonds wie ein schwankendes Gespenst.
    Daniel hatte recht, was meine Zeichnung betraf. Die Zweige
waren
alle falsch und die Verästelung am unteren Ende hätte nach oben weisen müssen. Mr Barlow hatte uns gebeten, etwas zu zeichnen, was uns an unsere Kindheit erinnerte. Als ich auf meinen Papierbogen gestarrt hatte, hatte ich einzig den alten Baum vor mir gesehen. Im Laufe der letzten drei Jahre hatte ich mir angewöhnt, wegzuschauen, wenn ich an ihm vorbeiging. Es hatte wehgetan, daran zu denken – an Daniel zu denken. Als ich jetzt auf der Veranda saß und den alten Baum im Mondlicht schwanken sah, schien er mein Gedächtnis zu durchwirbeln, sodass ich schließlich nicht anders konnte, als mich zu erinnern.
    Als ich aufstand, rutschte mir die Decke von den Schultern. Ich blickte mich um zum Vorderfenster und dann wieder auf den Baum. Der Hund war verschwunden. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber ich war froh,dass mich der Hund nicht dabei beobachtete, wie ich um die Ecke der Veranda lief und
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