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Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Titel: Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Autoren: Bree Despain
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mich zwischen die Berberitzenbüsche hockte. Ich ignorierte, dass ich mir eine fiese kleine Hautabschürfung an der Hand zuzog, als ich unterhalb der Veranda nach etwas tastete, von dem ich nicht mal sicher war, ob es sich überhaupt noch dort befand. Meine Fingerspitzen berührten etwas Kaltes. Ich schob die Hand weiter hinein und zog es heraus.
    Die alte Frühstücksbox aus Metall fühlte sich in meinen Händen wie ein Eisblock an. Sie war mit Rostflecken übersät, doch noch immer konnte ich das verblichene Micky-Maus-Logo erkennen, als ich den Schmutz mehrerer Jahre vom Deckel wischte. Die Dose stammte aus einer Zeit, die längst vergangen schien. Damals diente sie als Schatzkiste, in der Jude, Daniel und ich unsere speziellen Gegenstände aufbewahrten, wie Buttons, Baseball-Sammelkarten oder den komischen langen Zahn, den wir in den Wäldern hinter dem Haus gefunden hatten. Doch nun glich sie eher einem kleinen Metallsarg, einer Dose voller Erinnerungen, die ich lieber tot gesehen hätte.
    Ich öffnete die Dose und zog ein zerfleddertes Skizzenbuch mit Ledereinband hervor. Ich blätterte durch die halbvermoderten Seiten, bis ich auf die letzte Zeichnung stieß. Es war ein Gesicht, das ich wieder und wieder gezeichnet hatte, weil es mir nie ganz richtig gelungen war. Damals hatte er so blondes Haar, dass es fast weiß erschien, nicht zottelig und schwarz und ungewaschen wie jetzt. Er hatte ein Grübchen am Kinn, und sein Lächelnwirkte ironisch, ja beinahe verschlagen. Doch seine Augen hatten mich immer gefesselt. Ich konnte ihre Abgründe mit meinen einfachen Bleistiftstrichen niemals einfangen. Seine Augen waren so dunkel, so tief. Wie der dicke Schlamm am See, in den wir immer unsere Zehen hatten sinken lassen – es waren Augen wie Schlammtörtchen.
     
    Erinnerungen
     
    »Du willst sie? Dann komm und hol sie dir.« Daniel verbarg die Flasche mit Terpentinöl hinter seinem Rücken und machte einen Ausfallschritt, so als ob er weglaufen wollte.
    Ich verschränkte die Arme und lehnte mich gegen den Baumstamm. Ich hatte ihn schon ein paar Mal quer durchs Haus, über den Hof und um den Baum herum gejagt, und zwar deswegen, weil er sich in die Küche geschlichen und ohne ein Wort zu sagen meinen Farbverdünner geklaut hatte, während ich an meinen Hausaufgaben saß. »Gib’s mir zurück! Sofort.«
    »Küss mich«, erwiderte Daniel.
    »Wie bitte?«
    »Küss mich, und ich gebe sie dir zurück.« Er befühlte den halbmondförmigen Auswuchs am untersten Ast des Baums und grinste mich verschlagen an. »Du willst es doch auch.«
    Meine Wangen erröteten. Ich wollte ihn tatsächlich mitall der Sehnsucht meines elfeinhalbjährigen Herzens küssen, und ich wusste, dass er es wusste. Daniel und Jude waren schon im Alter von zwei Jahren die besten Freunde geworden, und ich, nur ein Jahr jünger, war hinter ihnen hergedackelt, seit ich laufen konnte. Jude hatte es nichts ausgemacht, mich im Schlepptau zu haben. Daniel hatte es gehasst, doch andererseits konnte nur ein Mädchen die Rolle von Königin Amidala übernehmen, wenn Daniel Anakin war und Jude Obi-Wan Kenobi. Und trotz Daniels Hänseleien war er der Erste, in den ich mich richtig verguckt hatte.
    »Ich verpetz dich«, sagte ich wenig überzeugend.
    »Machst du ja doch nicht.« Daniel lehnte sich vor, immer noch grinsend. »Jetzt küss mich.«
    »DANIEL!«, kreischte seine Mutter aus dem offenen Fenster ihres Hauses. »Du kommst besser rein und wischst die Farbe weg.«
    Daniel schnellte hoch, seine Augen waren vor Angst geweitet. Er blickte auf die Flasche in seiner Hand. »Bitte, Gracie?! Ich brauche sie.«
    »Du hättest mich ja gleich fragen können.«
    »KOMM SOFORT REIN, JUNGE!«, brüllte sein Vater aus dem Fenster.
    Daniels Hände zitterten. »Darf ich?«
    Ich nickte, und er rannte ins Haus. Ich versteckte mich hinter dem Baum und lauschte, wie sein Vater ihn ausschimpfte. Ich weiß nicht mehr, was Daniels Vater gesagt hatte. Es waren nicht seine Worte, die mich erschütterten, sondern der Klang seiner Stimme: Sie wurde immertiefer und glich mehr und mehr einem bösartigen Knurren.
    Ich ließ mich ins Gras sinken, zog die Beine an meine Brust und wünschte, dass ich etwas hätte tun können, um ihm zu helfen.
     
    Das alles geschah fünfeinhalb Jahre, bevor ich ihn am heutigen Tag in Barlows Klasse wiedertraf. Zwei Jahre und sieben Monate, bevor er verschwand. Doch nur ein Jahr, bevor er zu uns zog und bei uns lebte. Ein Jahr, bevor er zu unserem Bruder
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