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Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)

Titel: Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Autoren: Bree Despain
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KAPITEL 1
Der verlorene Sohn
     
    Nach dem Mittagessen
     
    »Grace! Hast du schon den Neuen in unserer Klasse gesehen?« April lief mir im Flur der Unterstufe entgegen. Manchmal erinnerte sie mich an den Cockerspaniel, den ich früher einmal hatte – bei jeder Gelegenheit zitterte sie vor lauter Aufregung am ganzen Leib.
    »Der schärfste Typ, den man je gesehen hat?« Ich ließ beinahe meinen Rucksack fallen. Blödes Spindschloss.
    »Im Gegenteil. Der Kerl ist echt übel. Ist in letzter Zeit zweimal von der Schule geflogen,
und
Brett Johnson sagt, dass er unter Bewährung steht.« April grinste. »Außerdem weiß doch jeder, dass Jude der schärfste Typ von allen ist.« Sie stieß mir in die Seite.
    Jetzt fiel mir der Rucksack endgültig aus der Hand. Die Schachtel mit Pastellkreiden knallte auf den Boden. »Nicht, dass ich wüsste«, schimpfte ich und ging in die Hocke, um meine zerbrochenen Kreidestücke wieder aufzusammeln. »Jude ist mein Bruder, oder hast du das vergessen?«
    April rollte mit den Augen. »Er hat doch hoffentlich beim Mittagessen nach mir gefragt, oder?«
    »Ja, klar«, erwiderte ich und sortierte meine Kreiden, »er fragte: ›Wie geht’s April?‹, und ich antwortete: ›Bestens.‹ Und dann hat er mir die Hälfte von seinem Truthahn-Sandwich abgegeben.« Ich schwöre, wenn an Aprilauch nur irgendwas faul gewesen wäre, hätte ich mir Sorgen machen müssen, dass sie nur deswegen mit mir befreundet war, um sich an meinen Bruder ranzumachen – wie mindestens die Hälfte aller anderen Mädchen auf der Schule.
    »Beeil dich«, sagte sie und blickte über ihre Schulter.
    »Du könntest mir ja auch helfen«, gab ich zurück und wedelte mit einer zerbrochenen Kreide vor ihrem Gesicht herum. »Ich hab sie gerade eben auf dem Rückweg vom Café gekauft.«
    April kauerte sich hin und hob eine blaue Kreide auf. »Was willst du überhaupt damit? Ich dachte, du arbeitest mit Kohle.«
    »Ich krieg das Bild nicht richtig hin.« Ich pflückte ihr das Kreidestück aus den Fingern und legte es zurück in die Schachtel. »Ich fang noch mal von vorne an.«
    »Aber es muss doch morgen fertig sein.«
    »Ich kann’s aber nicht abgeben, wenn es nicht gut ist.«
    »So schlimm sieht es doch gar nicht aus«, erwiderte April. »Dem neuen Typen scheint es zumindest zu gefallen.«
    »Wie bitte?«
    April schnellte hoch und fasste meinen Arm. »Na komm schon, das musst du sehen.« Sie stürmte auf den Kunstraum zu und zog mich hinter sich her.
    Ich hielt meine Pastellkreiden fest. »Du hast echt ’nen Knall.«
    April lachte und lief schneller.
    »Da ist sie ja«, rief Lynn Bishop, als wir um die Ecke indie Kunstabteilung bogen. Eine Gruppe von Schülern hatte sich mitten vor der Tür versammelt. Sie wichen zur Seite, als wir näher kamen. Jenny Wilson sah mich an und flüsterte Lynn etwas zu.
    »Was gibt’s denn so Spannendes?«, fragte ich.
    April deutete mit dem Finger darauf. »Das da.«
    Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Dieser Typ überschritt mit seinem zerlöcherten Wolfsbane T-Shirt und den schwarzen, schmuddeligen und an den Knien aufgescheuerten Jeans die zulässigen Grenzen der akzeptierten Kleidung an der Holy Trinity bei Weitem. Das zottelige, schwarz gefärbte Haar verdeckte sein Gesicht und er hielt einen großen Bogen Papier in seinen blassen, weißen Händen.
    Es war meine Kohlezeichnung, und er saß auf meinem Platz.
    Ich verließ die Gruppe der Schaulustigen und lief zu meinem Tisch. »Entschuldige, aber hier sitze ich.«
    »Dann musst du Grace sein«, sagte er ohne aufzuschauen. Irgendetwas an seiner Reibeisenstimme ließ die Haare auf meinen Armen zu Berge stehen.
    Ich trat einen Schritt zurück. »Woher kennst du meinen Namen?«
    Er deutete auf das aufgeklebte Namensschild an meinem Werkzeugbehälter, den ich während der Mittagspause stehen gelassen hatte. »Grace Divine«, schnaubte er. »Die
Gnade Gottes
. Haben deine Eltern vielleicht irgend so ’nen religiösen Fimmel? Ich wette, dein Dad ist Theologe.«
    »Pastor, genauer gesagt, aber das geht dich gar nichts an.«
    Er hielt meine Zeichnung in den Händen. »Grace Divine. Sie erwarten bestimmt Großes von dir.«
    »Das tun sie. Und jetzt zieh Leine.«
    »Deine Zeichnung ist alles andere als gelungen«, sagte er. »Du hast die Zweige hier ganz falsch angebracht, und diese Verwachsung da müsste nach oben zeigen statt nach unten.« Mit seinen dünnen Fingern nahm er einen meiner Kohlestifte und fing an, auf dem Blatt
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