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Toter geht's nicht

Toter geht's nicht

Titel: Toter geht's nicht
Autoren: Faber Dietrich
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    1. KAPITEL
    N atürlich wäre es viel cooler, wenn ich nicht ich wäre.
    Dann würde ich in Berlin-Mitte leben. Vielleicht aber auch in Hamburg, «in der Schanze» oder «auf Pauli».
    Jedenfalls nicht im Vogelsberg. Und schon gar nicht in Bad Salzhausen. In einer Doppelhaushälfte. Ich würde urban im Altbau wohnen, mit wenig Möbeln und hohen Wänden.
    Ich würde in der Mittagssonne mit übergeschlagenen Beinen an einem Bistrotisch im Freien sitzen, filterlose Selbstgedrehte rauchen, schönen Frauen nachblicken, einen Latte trinken und auf meinem iPad herumspielen.
    Ich würde nicht in der Bäckerei Wurstmann einen abgepackten Salat essen und im «Oberhessischen Anzeiger» verwackelte Fotos der Jahreshauptversammlung des Männergesangvereins betrachten.
    Ich wäre auch nicht verheiratet. Ich hätte nicht zwei Kinder von einer Frau.
    Ich hätte vier Kinder von fünf Frauen. Und diese wären auch nicht Lehrerinnen, sondern nach Neuseeland ausgewandert, würden dort Schafe züchten und Bestsellerromane schreiben. Manchmal käme ich sie besuchen. Dann wären wir alle ausgesprochen heiter, ausgelassen, braun gebrannt und austrainiert, würden guten Wein trinken, Gitarre spielen und uns keine Vorwürfe machen.
    Auch beruflich wären die Schwerpunkte anders gelagert.
    Ich wäre dann irgendwo da draußen, wo es wirklich wehtut. Ich würde behinderte osteuropäische aidskranke Kinder vor der Zwangsprostitution retten und dabei ganz beiläufig aufdecken, dass der vom schwulen Oberstaatsanwalt gedeckte Innenminister mit Drogen handelt und früher vom zukünftigen Papst in einer Jesuitenschule sexuell missbraucht wurde.
    Ich würde mich jedenfalls nicht im Polizeirevier Alsfeld mit der Überarbeitung der Broschüre «Verkehrssicherheit im Vogelsberg – was können auch Sie tun?» befassen.
    Das aber tue ich, denn ich bin nun mal ich.
    Mein Name ist Henning Bröhmann. Dafür kann ich nichts.
    Für vieles andere, vermutlich sogar für das meiste in meinem Leben, kann ich etwas. Einiges hätte ich gern ein wenig anders. Doch dies zu ändern erscheint mir oft eine Spur zu anstrengend.
     
    Ich lebe mitten in Hessen in einem sehr undicht besiedelten Mittelgebirge namens Vogelsberg, nahe an der Grenze zur Wetterau. Objektiv gesehen ist es hier recht schön, zumindest landschaftlich. Subjektiv gesehen auch. Und doch finde ich immer wieder Anlass zur Klage, da ich seit meiner Kindheit nahezu durchgängig hier lebe und vielleicht auch gerne einmal etwas anderes gesehen hätte. Dazu kam es aber nicht, wofür ich den Vogelsberg nicht verantwortlich machen darf. Manchmal tue ich es aber doch.
    Und so wachsen nach dem einen oder anderen Jahr, das ins Vogelsberger Land gegangen ist, inzwischen auch meine Kinder hier auf, die vierzehnjährige Melina und der fünfjährige Laurin.
    Im Kurort Bad Salzhausen leben wir. Bad Salzhausen gehört inzwischen zur Stadt Nidda, die genauso heißen darf oder muss wie ihr Fluss. Nidda bezichtigt sich selbst als «das Herz zwischen Wetterau und Vogelsberg», was bedeutet, dass es sich nicht entscheiden kann, zu welchem Landstrich es denn nun geographisch, politisch oder emotional gehören möchte. Für mich ist der Fall klar, ich bin Vogelsberger und kein Wetterauer.
    Ich habe mich niemals für und niemals gegen meine Heimat als Wohnort entschieden. Ich war und bin einfach dort. Und das inzwischen völlig zu Recht und verdientermaßen. Immer häufiger stelle ich fest, dass ich den Vogelsberg verteidige, wenn dessen Bewohner einmal wieder als rückständig oder hinterwäldlerisch bezeichnet werden. Oft fallen mir zwar keine Gegenargumente ein, doch es geht mir hier ums Prinzip. Ich bin auch jemand, der Politiker klasse findet.
     
    Und dann bin ich noch ein Arsch. Sagt jedenfalls meine Tochter.
    Ich finde das nicht, und wenn es so wäre, dann könnte sie, wenn sie es mir schon unbedingt ins Gesicht sagen muss, eine andere, eine nettere, eine höflichere Umschreibung finden. Doch das tut sie derzeit sehr selten, denn mit dem Nettsein ist das gerade so eine Sache. Melina ist vierzehn, und das mag vieles entschuldigen, aber eben nicht alles.
    Meine leibliche Tochter Melina Bröhmann steht an diesem kalten Faschingssonntag in unserem Wohnzimmer halb-, was sage ich: dreiviertel nackt vor mir und teilt mit, dass sie nun los wolle.
    «Los?», frage ich, während ich auf einem übriggebliebenen Weihnachtsplätzchen kaue. «Wohin?»
    «Na, auf diesen fuck Faschingsumzug, wohin sonst, ist ja
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