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So unerreichbar nah

So unerreichbar nah

Titel: So unerreichbar nah
Autoren: Marleen Reichenberg
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HUNGRY  EYES
     
     
    Langsam
leckte er sich mit der Zunge über seine Lippen, während sein Blick von meinem Gesicht
zu meiner Oberweite hinunterglitt.
    »Ich denke
andauernd nur daran, wie ich eine Frau ins Bett bekommen kann und was ich dort
mit ihr anstellen werde«, erklärte er mit heiserer Stimme. »Auch in diesem
Augenblick.« Lauernd beobachtete er mich, wie ich reagieren würde.
    Weit davon
entfernt mich über diese plumpe Anmache aufzuregen, lehnte ich mich betont
entspannt in meinem Ledersessel zurück und blickte ihn über den Rand meiner
Brille hinweg mit einem neutralen Blick an. Eigentlich benötigte ich keine
Sehhilfe, aber mit meiner randlosen Fensterglasbrille, so fand ich, wirkte ich
seriöser und intellektueller. Und für Fälle wie den, der vor mir saß, war
dieses Image genau richtig.
    Ich war heilfroh
über den weiten grobgestrickten Wollpullover, den ich über einem enganliegenden
Langarmtop trug. Heute Morgen beim Anziehen hatte ich noch gefröstelt, während
mir nun in meinem gutgeheizten Büro warm geworden war. Aber solange er mir
gegenübersaß, würde ich den Pulli nicht ausziehen, um ihn nicht auf falsche
Gedanken zu bringen.
    Er musste
lernen, dass Frauen keine reinen Sexobjekte waren und menschliche Nähe
zulassen. Und er würde mich gut dafür bezahlen, dass ich ihm sein
neandertalermäßiges Verhalten - Frau sehen, Frau  vernaschen, vergessen und
nach der nächsten Ausschau halten - abgewöhnte. Routiniert unterbrach ich seine
triebgesteuerten Gedankengänge:
    »Jürgen, Sie
sind zu mir gekommen, weil Sie dieser ständige Drang nach Geschlechtsverkehr in
ihrem Alltag massiv behindert. Er verhindert, dass Sie zu einer Frau eine
wirkliche Bindung aufbauen. Sie haben Angst vor Ihren Gefühlen, vor Nähe, einer
echten Beziehung und Verantwortung. Gleichzeitig sehnen Sie sich nach einem
Menschen, der Sie wirklich versteht. Daran werden wir in den kommenden Monaten
arbeiten. Erzählen Sie mir von sich. Was machen Sie beruflich?«
    Ich atmete
innerlich auf, als seine Augen zu meinem Gesicht zurückglitten und er sich
wichtigtuerisch in seinem Stuhl aufrichtete. Ablenkungsmanöver gelungen.
    Während er in
epischer Breite von seinem verantwortungsvollen Job als Leiter einer
Luxusmarken-Kfz-Niederlassung im Norden Münchens erzählte, musterte ich ihn unauffällig.
Er war nicht unattraktiv, wenn man auf glattgebürstete Managertypen mittleren
Alters in Anzug und Krawatte stand und wirkte sehr von sich überzeugt. Ich
wusste aber, dass sich unter dieser aufgesetzten Selbstsicherheit ein zutiefst
verletzter Mensch verbarg, der seine Selbstbestätigung augenblicklich nur von
der Anzahl der Frauen abhängig machte, die er in sein Bett zerren konnte.  
    Und ich als
seine Therapeutin war dafür zuständig, ihn durch geschickte Fragestellung
dieses Muster erkennen zu lassen und eine Verhaltensänderung herbeizuführen.
    Als er nach
den üblichen fünfundvierzig Minuten mein Büro verlassen hatte, schrieb ich mir
rasch noch einige Notizen in seine Akte, sortierte diese in den hinter mir
stehenden  Büroschrank, der die Hängeregistraturen mit den Aufzeichnungen zu meinen
Patienten enthielt, ein und warf einen Blick in mein Bestellbuch, um mir einen
Überblick über meine nach der Mittagspause anstehenden Termine zu verschaffen.
     
    Um Punkt fünf
an diesem Freitagnachmittag verließ ich die Büroräume der psychologischen
Gemeinschaftspraxis in München-Schwabing, die ich vor drei Jahren zusammen mit
zwei Studienkollegen, Johannes und Max, eröffnet hatte. In einer Welt, die
durch ständige Negativberichterstattung über Kriege, Finanzkrise und
Promischeidungen zunehmend unsicherer und unbeständiger wirkte und noch dazu in
einer Großstadt, wo sich die Menschen trotz hoher Einwohnerdichte immer
einsamer und gehetzter fühlten, benötigte eine stetig wachsende Anzahl von
ihnen Halt und Orientierung.  
    Gesprächs-,
Hypnose- und Verhaltenstherapie waren inzwischen gesellschaftlich anerkannte
Wege, um eingebildete oder echte psychische Probleme an der Wurzel zu packen. Und
seit das Wort "Coaching" den Begriff "Therapie" abgelöst
hatte, galt es in gewissen Gesellschaftsschichten als schick und bewundernswert,
wenn man im Bekanntenkreis erklärte, man lasse sich "coachen". Das
zeugte von Selbsterkenntnis, Verantwortungsgefühl und dem dazu nötigen
Kleingeld.
    Meinen
Kollegen und mir kam dieser Trend sehr zugute und bescherte uns trotz der
horrenden Büromiete gute Einnahmen.
    Die Kehrseite
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