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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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die auf Asaharas Visionen von einer weiteren [astralen] Dimension und den Erinnerungen an frühere Leben basierte. Die Astral-Medizin erforschte das Karma und den Energie-Zustand des Patienten, unter Berücksichtigung des Todes und der Seelenwanderung […] Ich träumte von einer natürlichen Landschaft, in der einzelne Gebäude verstreut im Grünen lagen. Dort würde ich mich mit meiner ganzen Kraft der medizinischen Versorgung und meiner Askese widmen. Mein Traum und ›Lotus Village‹ waren eins.«
    Hayashi träumte also davon, sich einer Utopie zu verschreiben, unbelastet von irdischen Zwängen strenge Askese zu üben sowie eine Medizin zu praktizieren, die er aus ganzem Herzen vertreten konnte, und damit so vielen Patienten wie möglich zu helfen. Selbstverständlich waren seine Absichten lauter, und die beschriebene Vision besitzt einen tugendhaften Glanz. Betrachtet man das Ganze jedoch einmal nüchtern, wird deutlich, wie weit diese unschuldige Schilderung von der Wirklichkeit entfernt ist. Die Landschaft erscheint uns wie ein eigenartig flaches Gemälde, ohne Perspektive oder Tiefenschärfe. Wären wir damals, als Dr. Hayashi Aum-Mitglied wurde, mit ihm befreundet gewesen und hätten versucht, ihm vor Augen zu führen, dass seine Vorstellungen realitätsfremd seien, hätten wir vermutlich keinen Erfolg damit gehabt.
    Andererseits hätten wir Dr. Hayashi etwas sehr Einfaches sagen können: Wirklichkeit ent- und besteht aus Verwirrung und Widersprüchen, und wenn man diese ausschließt, kommt auch die Wirklichkeit abhanden. Und: Selbst wenn man zunächst glaubt, sie durch raffinierte Sprache und Logik eliminieren zu können, wird die scheinbar besiegte Wirklichkeit ihrem Feind irgendwo auflauern und sich rächen.
    Wahrscheinlich hätte diese Argumentation Dr. Hayashi nicht überzeugen können. Er hätte mit Fachterminologie und Logik geschickt widersprochen und erklärt, wie richtig und gut der Weg doch sei, den er gehen würde. Bis wir dann irgendwann geschwiegen hätten.
    Das Schlimme daran ist, dass eine der Realität entfremdete Sprache und Logik häufig größere Macht entwickeln als die Sprache und Logik der Wirklichkeit, denn das ganze Konglomerat aus Verwirrung und Widersprüchen liegt ihr wie Felsbrocken im Weg. So hätten wir, unfähig, einander zu verstehen, schließlich getrennte Wege gehen müssen.
    Bei der Lektüre von Dr. Hayashis Aufzeichnungen müssen wir oft nachdenklich innehalten und uns fragen, wie es überhaupt so weit mit ihm kommen konnte. Gleichzeitig ergreift uns ein Gefühl von Ohnmacht, weil wir wissen, dass wir ihn niemals hätten zurückhalten können. Eine seltsame Traurigkeit nimmt von uns Besitz. Besonders niedergeschlagen macht uns der Gedanke, dass ausgerechnet diejenigen, die unserer »zweckorientierten Gesellschaft« so kritisch gegenüberstanden, das Argument der Nützlichkeit gebraucht und am Ende so viele Menschen umgebracht haben.
    Andererseits hält sich wahrscheinlich niemand für so unbedeutend, dass es ihm nichts ausmachen würde, in den Mühlen eines Systems zermalmt zu werden und dann zu sterben. Eigentlich möchten wir doch alle wissen, wozu wir auf der Welt sind und warum wir am Ende sterben und verschwinden. Steht es uns da überhaupt zu, Menschen zu verurteilen, die sich ernsthaft um Antworten bemühen? Doch genau an dieser Stelle könnte uns ein tödlicher Fehler unterlaufen. Die Physiognomie der Wirklichkeit beginnt sich zu verzerren; plötzlich erkennen wir, dass der Ort der Verheißung sich verändert hat und nicht mehr derjenige ist, dem unsere Suche galt. Wie es in Mark Strands Gedicht heißt: »Die Berge sind keine Berge mehr; die Sonne ist nicht die Sonne.«
    Damit es keinen zweiten und dritten Ikuo Hayashi mehr geben wird, ist es für unsere Gesellschaft von essentieller Wichtigkeit, die Fragen, die durch den Sarin-Anschlag tragischerweise aufgeworfen wurden, in all ihren Facetten zu analysieren. Anscheinend haben die meisten von uns mit der Sache abgeschlossen. Für sie war es ein schlimmer Vorfall, aber nun, da alle Schuldigen hinter Schloss und Riegel sind, fühlen sie sich nicht mehr direkt betroffen. Dennoch sollten wir uns vor Augen halten, dass der Großteil der Menschen, die sich einer Sekte anschließen, nicht sonderlich aus dem Rahmen fallen. Sie sind weder auf der Strecke Gebliebene noch Exzentriker, sondern völlig normale (vielleicht sogar allzu normale) Menschen, die in unserer Mitte leben.
    Vielleicht grübeln sie ein bisschen zu
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