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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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exakten Ursprung dieser Gewalt gab. 25 In dieser Hinsicht waren sich das Erdbeben und der Gasanschlag sehr ähnlich.
    Es bleibt die Möglichkeit, die Ereignisse metaphorisch zu betrachten. Alptraumhaft brachen in ihnen aus dem dunklen Untergrund zu unseren Füßen sämtliche Widersprüche und Schwachpunkte unseres Gesellschaftssystems mit furchtbarer Deutlichkeit hervor. Unsere Gesellschaft erwies sich dem Ansturm dieser wahnsinnigen Gewalt nicht gewachsen. Weder waren wir imstande gewesen, sie vorauszusehen und uns auf sie vorzubereiten, noch war es uns gelungen, adäquat auf sie zu reagieren. »Unser« System hatte offensichtlich versagt.
    Das bedeutet, die Zusammenhänge, das Gefüge oder die Geschichte, denen der Durchschnittsmensch sich angehörig fühlt, hatten es nicht vermocht, allgemein gültige Werte hervorzubringen, die als Gegengewicht zu dieser Gewalt wirksam werden konnten.
    Gewiss, Katastrophen dieser Größenordnung bringen immer ein gewisses Maß an Verwirrung und Unterlassungen mit sich. Wie auch aus den Interviews hervorgeht, ist es auf allen Ebenen – U-Bahn, Feuerwehr, Polizei, Krankenhäuser – zu größeren oder kleineren Fehleinschätzungen und Irrtümern gekommen.
    Es ist jedoch nicht meine Absicht, diese ganzen Irrtümer aufzudecken und zu kritisieren. Das heißt nicht, dass ich sie mit einem resignierten Achselzucken und einem »da kann man eben nichts machen« abtue. Andererseits bin ich nicht der Ansicht, dass jedes einzelne Versäumnis jetzt noch aufgedeckt werden müsste. Relevanter scheint mir das Eingeständnis, dass diese Fehleinschätzungen unmittelbar aus dem lückenhaften und ungenügenden japanischen Krisenmanagement resultierten.
    Bedauerlich und vielleicht sogar gefährlich ist, dass aus den Fehlern wenig gelernt wurde, und zwar zum Teil einzig deshalb, weil kein entsprechender Informationsaustausch stattgefunden hat. Japanische Institutionen sind immer noch in sich geschlossene Kreise, die höchst empfindlich auf jede Art von öffentlichem Gesichtsverlust reagieren und daher kaum gewillt sind, Fehler öffentlich zuzugeben. Viele Bemühungen, übergreifend Erfahrungswerte zusammenzutragen, scheiterten an den alten Vorwänden: »Das wird bereits untersucht …« oder »Das ist allein Angelegenheit der Regierung.«
    Übrigens bekam auch ich öfter ähnliche Ausreden zu hören: »Ich selbst würde ihnen ja gern helfen, aber die Nachbarn, die über uns wohnen …« Wahrscheinlich hat man in Japan das Gefühl, dass irgendjemand die Verantwortung auf sich nehmen muss, wenn man sich zu offen äußert.
    Natürlich wird niemandem ausdrücklich der Mund verboten. Eher wird der Vorgesetzte einen sanften Rat erteilen: »Ist doch eigentlich alles schon passé. Am besten, wir reden mit Außenstehenden gar nicht mehr so viel darüber …« Doch jeder versteht die Andeutung.
    Für meinen Roman Mr. Aufziehvogel habe ich mich intensiv mit dem so genannten »Zwischenfall von Nomonhan 1939« beschäftigt, einem gewalttätigen Übergriff der japanischen Armee in der Mongolei. Je tiefer ich in die Protokolle eindrang, desto sprachloser war ich angesichts der Dreistigkeit, ja des hellen Wahnsinns des Oberkommandos der Kaiserlichen Armee. Wie hatte die Geschichtsschreibung diese sinnlose Tragödie so leichtfertig übergehen können? Doch als ich zu dem Sarin-Anschlag recherchierte, wurde mir bewusst, dass die Tendenz der japanischen Gesellschaft zur Abschottung und zum Zurückscheuen vor Verantwortung, der ich nun begegnete, sich kaum vom damaligen Verhalten der Kaiserlichen Armee unterschied.
    Im Wesentlichen waren es die einfachen Soldaten an der Waffe, die am meisten gefährdet waren, am meisten litten, mit den schlimmsten Greueln konfrontiert waren und die am Ende am schlechtesten entschädigt wurden, während die Offiziere und die Strategen hinter der Front überhaupt keine Verantwortung übernahmen. Sie trugen Masken, standen nicht zu ihrer Niederlage und beschönigten sie mit Phrasen und Rhetorik. Wären ihre grausamen Anordnungen an der Front ans Licht gekommen, hätte man sie als Befehlshabende unverzüglich strengstens bestraft. Damals bedeutete das üblicherweise Harakiri. Also erhielten die Berichte über den Vorfall den Status »Militärgeheimnis« und wurden unter Verschluss gehalten.
    So wurden zahllose Frontsoldaten einer wahnwitzigen Strategie geopfert. Obwohl die Ereignisse über fünfzig Jahre zurückliegen, war ich entsetzt, als ich erfuhr, welche Grausamkeiten sich in
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