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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Zu Hause angekommen, setzte ich mich sofort an den Schreibtisch, um alles aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Ich war selbst ganz beeindruckt von der menschlichen Gedächtnisleistung, die mich in die Lage versetzte, allein mit Hilfe einiger Notizen ein ganzes Gespräch zu reproduzieren. Für einen Reporter mag das eine ganz alltägliche Aufgabe darstellen, aber mir fiel es nicht leicht. Leider wurde mir schließlich doch nicht gestattet, das Gespräch ins Manuskript aufzunehmen, sodass die Mühe umsonst gewesen war.
    Meine beiden Mitarbeiter, Setsuo Oshikawa und Hidemi Takahashi, halfen mir, die Interviewpartner ausfindig zu machen. Dabei bedienten wir uns zweier Methoden:
    1. Wir durchforschten die Veröffentlichungen in den Medien nach Namenslisten von Opfern des Sarin-Anschlags.
    2. Wir fragten überall herum, ob jemand eventuell Personen kenne, die den Anschlag miterlebt hatten.
    Offen gestanden hatte ich mir dieses Unternehmen gar nicht so schwierig vorgestellt und sogar angenommen, es müsse leicht sein, Betroffene ausfindig zu machen, da es ja so viele gab. Nur verfügten die Behörden – die Polizei und die Justiz – über keine Liste der Anschlagsopfer, denn selbstverständlich musste die Privatsphäre der Betroffenen geschützt werden, sodass Außenstehenden die Namen nicht zugänglich waren. Das Gleiche galt auch für die Krankenhäuser. Wir hatten also nicht mehr als die Namen der Leute, die am Tag des Anschlags in den Zeitungen gestanden hatten. Nur die Namen, ohne Adressen oder Telefonnummern.
    Als Erstes erstellten wir eine Liste mit 700 Namen, von denen nur zwanzig Prozent »identifiziert« werden konnten, denn es erwies sich als äußerst schwierig, Personen mit gängigen Namen wie beispielsweise »Ichiro Nakamura« ausfindig zu machen. Auch nachdem es uns gelungen war, mit etwa 140 Personen in Verbindung zu treten, lehnten viele ein Gespräch mit der Begründung ab, dass sie den ganzen Vorfall lieber vergessen, nichts mit der Aum-Sekte zu tun haben wollten oder den Medien im Allgemeinen misstrauten. Es war beinahe die Regel, dass Leute bei der bloßen Erwähnung der Presse oder des Namens eines Verlages auflegten. Schließlich erklärten sich von den 140 ermittelten Personen etwa vierzig Prozent zu einem Interview bereit.
    Die Aum-Angst vieler Menschen ließ etwas nach, als die führenden Sektenmitglieder verhaftet worden waren. Dennoch weigerten sich noch immer viele mit der Begründung, ihre Aussage sei wertlos, da sie keine starken Vergiftungssymptome erlitten hätten. Andere wären zu einem Gespräch bereit gewesen, wurden aber von ihren Familien daran gehindert. Auch Mitteilungen von Angestellten des öffentlichen Dienstes oder aus dem Finanzwesen ergaben sich nicht.
    Aus praktischen Gründen konnten weniger Frauen interviewt werden, da es sich als außerordentlich kompliziert erwies, sie anhand ihres Namens aufzuspüren. Hinzu kommt, dass sich junge unverheiratete Japanerinnen nur höchst ungern von Fremden befragen lassen. Allerdings erklärten sich auch einige Personen gegen den Willen ihrer Familien zu einem Gespräch bereit.
    So konnten wir von den etwa 3800 Opfern nur etwa 60 befragen, und schon das erforderte viel Zeit und Hingabe.
    Als wir die Interviews bearbeitet hatten, schickten wir die Manuskripte den einzelnen Gesprächspartnern noch einmal zur Durchsicht mit der Bitte, uns auf Punkte hinzuweisen, deren Veröffentlichung ihnen unangenehm sei. Die meisten der Angesprochenen baten auch wirklich um Änderungen, denen wir natürlich gewissenhaft nachgekommen sind. Häufig ging es dabei um Einzelheiten aus dem privaten Leben des Interviewten, um die es mir als Schriftsteller ganz besonders leid tat. Mitunter machte ich Alternativvorschläge und ließ sie von der betreffenden Person absegnen. Einige der Interviews wurden bis zu fünfmal hin- und hergeschickt. Es wurden alle Anstrengungen unternommen, einer Ausbeutung der Privatsphäre der Interviewten durch die Massenmedien vorzubeugen. Unbedingt galt es zu vermeiden, dass sich jemand hintergangen fühlte. All dies nahm viel Zeit in Anspruch.
    Insgesamt hatten wir 62 Interviews, aber wie bereits erwähnt, zogen zwei Personen im letzten Moment ihre Aussagen zurück. Es handelte sich um inhaltlich sehr profunde und wichtige Texte, sodass ich ihre Streichung aus dem Manuskript beinahe wie eine Amputation empfand, aber ich musste das Nein der Betreffenden akzeptieren. Von Anfang an hatten wir unsere Absicht beteuert, die Äußerungen
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