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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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beobachtete. Er durchstach auch seinen Übungsbeutel nicht. Dem achtundvierzigjährigen Arzt kam das Ganze eher wie ein albernes Spiel vor.
    »Ich habe nicht geprobt. Vom Hinsehen wusste ich ja Bescheid, auch wenn ich mit dem Herzen nicht bei der Sache war«, sagte er bei der Verhandlung aus.
    Nach dem Manöver fuhren alle fünf wieder mit einem Wagen in das Ajid in Shibuya zurück. Dort verteilte Hayashi mit Atropinsulfat gefüllte Spritzen an die Teams und gab die Anweisung, sie sich bei den ersten Anzeichen einer Sarin-Vergiftung zu setzen.
    Auf dem Weg zum Bahnhof kaufte Hayashi in einem Supermarkt Handschuhe, ein Messer, Klebeband und ein Paar Sandalen. Niimi, sein Fahrer, besorgte Zeitungen – Seikyo Shimbun und Akahata 2 –, um die Plastikbeutel mit dem Sarin darin einzuwickeln. Diese Blätter seien doch interessanter als Zeitungen, die man überall kaufen könne, scherzte er noch. Von den beiden Zeitungen entschied sich Hayashi für Akahata ; die Publikation einer anderen Sekte wäre zu verdächtig und damit kontraproduktiv gewesen.
    Ehe Hayashi in die Bahn mit der Nummer A 725 K stieg, legte er einen Mundschutz an. 3 Als er eine Frau und ein Kind in der Bahn entdeckte, geriet Hayashis Entschluss vorübergehend ins Wanken. »Wenn ich das Sarin jetzt hier freisetze, ist die Frau so gut wie tot. Es sei denn, sie steigt noch aus«, überlegte er. Doch er war nun so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gab. Er kämpfte für die Wahrheit. Schwäche zu zeigen war etwas für Verlierer.
    Als die Bahn sich Shin-Ochanomizu näherte, ließ er die Sarin-Beutel auf den Boden zu seinen Füßen fallen, fasste sich ein Herz und durchstach sie mit der Spitze seines Schirms. Er spürte den Widerstand, einen Widerstand, der mit einem leisen Zischen nachgab. Er stach mehrere Male zu, wie oft, weiß er nicht mehr. Allerdings hatte er nur einen der Beutel durchstochen, der andere war unversehrt geblieben.
    Aber das Sarin aus dem einen Beutel lief vollständig aus und reichte, um großen Schaden anzurichten; in der Station Kasumigaseki starben zwei Bahnbeamte im Dienst bei dem Versuch, den Beutel zu entfernen. Der Zug A 725 K wurde an der nächsten Haltestelle Kokkai-Gijidomae – dem »Parlamentsplatz« – angehalten, alle Fahrgäste wurden evakuiert und die Wagen gereinigt.
    Allein durch Hayashis Anschlag kamen zwei Menschen ums Leben und 231 wurden schwer verletzt. 4

»Niemand behielt einen kühlen Kopf!«
Kiyoka Izumi (26) 5
    Frau Izumi stammt aus Kanazawa. Zurzeit arbeitet sie in der Werbeabteilung einer ausländischen Fluggesellschaft.
    Nach ihrem Universitätsabschluss begann sie eine Tätigkeit bei der japanischen Bundesbahn (Japan Railways – JR), beschloss jedoch nach drei Jahren dort aufzuhören und arbeitet seit zwei Jahren für die Fluggesellschaft. Damit hat sie sich einen Kindheitstraum erfüllt. Obwohl ein Stellenwechsel zu einer Fluggesellschaft in Japan sehr schwierig ist und nur einem von 1000 Bewerbern um eine mittlere Anstellung gelingt, hat Frau Izumi es geschafft. Kurze Zeit später wurde sie Opfer des Sarin-Anschlags.
    Sie fand ihre Arbeit bei JR, wie sie zugibt, eher uninteressant. Es gab zwar viele Fortbildungsmöglichkeiten, aber sie empfand den starken Einfluss der Gewerkschaft als bedrückend und mit ihrer Persönlichkeit nicht vereinbar. Zudem wünschte sie sich eine Stelle, bei der sie ihre Englischkenntnisse einsetzen konnte. Ihre Kollegen versuchten sie von ihrem Entschluss abzubringen, aber sie blieb fest. Während des U-Bahn-Anschlags erwies sich die Erste-Hilfe-Ausbildung, die sie bei JR erhalten hatte, als von unschätzbarem Wert.

    Zur Zeit des Anschlags habe ich in Waseda gewohnt, aber die Wohnung war mir zu klein, und ich bin vor kurzem umgezogen.
    Mein Arbeitsplatz befindet sich in Kamiyacho, und ich fuhr immer von Waseda mit der Tozai-Linie bis Otemachi, um in die Chiyoda-Linie nach Kasumigaseki umzusteigen. Von dort ist es mit der Hibiya-Linie nur eine Haltestelle bis Kamiyacho. Um halb neun fange ich an, sodass ich immer zwischen 7.45 und 7.50 aus dem Haus gehe, damit ich kurz vor halb neun da bin. Ich war immer eine der Ersten. Die meisten kommen erst um Punkt halb. Bei einem japanischen Arbeitgeber wird erwartet, dass man schon eine halbe oder sogar eine Stunde vor Arbeitsbeginn im Büro ist, aber bei ausländischen Firmen scheint jeder nach seinem eigenen Rhythmus anzufangen. Früh im Büro zu sein bringt keine besonderen Pluspunkte.
    Ich stehe immer gegen 6.15 oder 6.20 auf.
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