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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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weiß über den Umgang mit Notfällen Bescheid. Sagen Sie mir, was ich tun kann.« Aber der Mann stierte nur blicklos vor sich hin. »Ja, wir brauchen Hilfe«, sagte er abwesend. Also wandte ich mich an seine Kollegen, die dort saßen: »Jetzt ist keine Zeit zum Weinen.« »Wir weinen doch gar nicht«, antworteten sie. Aber damals hatte ich den Eindruck, dass ihnen aus Trauer über den Tod ihrer Kollegen die Tränen übers Gesicht liefen.
    »Haben Sie die Ambulanz verständigt?« fragte ich. Sie hatten. Ich hörte auch tatsächlich die Martinshörner, aber sie schienen nicht auf uns zu zu kommen. Warum diese Station als letzte von den Rettungswagen angefahren wurde, weiß ich nicht, aber das war der Grund dafür, dass die Schwerverletzten so spät ins Krankenhaus gebracht wurden und zwei von ihnen starben.
    Währenddessen drehte der Sender TV Tokyo die ganze Zeit. Neben uns stand ihr Wagen. Ich lief zu ihnen und sagte: »Das ist jetzt nicht der rechte Augenblick für so was. Bringen Sie bitte diese Leute mit Ihrem Wagen ins Krankenhaus.« Der Fahrer verhandelte kurz mit dem Team, und sie willigten ein.
    Bei JR hatte ich immer einen roten Schal dabeigehabt, um im Notfall damit einem Zug ein Signal geben zu können. Das fiel mir ein, und ich rief: »Hat jemand vielleicht einen auffälligen Schal dabei?« Schließlich lieh mir jemand ein Taschentuch, das ich dem Fahrer gab. »Bringen Sie die Leute ins nächste Krankenhaus. Das ist ein Notfall, also drücken Sie die ganze Zeit auf die Hupe und fahren Sie einfach so zügig wie möglich weiter, auch wenn eine Ampel rot ist«, erklärte ich ihm.
    An die Farbe des Taschentuchs kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war irgendwie gemustert. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich ihm gesagt habe, er solle damit winken oder es an den Seitenspiegel knoten. Meine Erinnerung ist nicht ganz deutlich, weil ich ja selbst so aufgeregt war. Dann schafften wir Herrn Takahashi – den Bahnbeamten, der gestorben ist – und einen anderen auf den Rücksitz.
    Als ich Herrn Toyoda später wiederbegegnete, schenkte er mir ein neues Taschentuch und sagte: »Ich habe Ihnen Ihr Taschentuch nicht wiedergegeben.« Als ihm auf dem Rücksitz schlecht geworden war, hatte er es benutzt.
    Herr Takahashi hat, glaube ich, zu diesem Zeitpunkt noch gelebt. Aber man konnte auf den ersten Blick sehen, dass er es nicht schaffen würde. Bis dahin hatte ich zwar noch nie jemanden sterben gesehen, aber man konnte es an seinem Gesicht erkennen. Er würde sterben. Trotzdem musste man ja irgendetwas für ihn tun.
    »Bitte, kommen Sie doch auch mit«, bat mich der Fahrer, aber ich wollte nicht. Es wurden immer noch viele Leute heraufgebracht, um die sich jemand kümmern musste, also blieb ich. In welches Krankenhaus der Mann gefahren ist und was dann passiert ist, weiß ich nicht.
    Ganz in meiner Nähe stand ein Mädchen, das weinte und am ganzen Körper zitterte. Ich ging zu ihr und versuchte sie zu beruhigen. Inzwischen war endlich ein Rettungswagen eingetroffen. Ich kümmerte mich nun um verschiedene Personen, die alle kalkweiß, ja schon fast farblos waren. Unter ihnen war auch ein älterer Mann, dem Schaum aus dem Mund floss. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch so viel Schaum produzieren könnte. Ich knöpfte ihm das Hemd auf, löste seinen Gürtel und fühlte ihm den Puls, der ziemlich schnell ging. Ich sprach ihn mehrmals an, aber er war wohl bewusstlos.
    Dieser ältere Mann war auch ein Stationsbeamter, aber weil er seine Uniformjacke ausgezogen hatte, habe ich das damals nicht bemerkt. Wegen seines bleichen Gesichts und seines schütteren Haares hielt ich ihn für einen älteren Fahrgast. Später erfuhr ich, dass es Herr Toyoda war, ein Kollege der beiden Beamten [Herr Takahashi und Herr Hishinuma], die ums Leben gekommen sind. Von den dreien auf dem Bahnsteig der Chiyoda-Linie ist er der Einzige, der überlebt hat. Er gehörte auch zu denen, die am längsten im Krankenhaus lagen.
    Als der Krankenwagen kam, fragten mich die Sanitäter, ob er bei Bewusstsein sei. »Nein«, schrie ich, »aber sein Puls schlägt noch.« Sie legten ihm eine Sauerstoffmaske an und riefen: »Wir haben noch eine« – also eine Sauerstoffmaske. »Wir können noch jemanden mitnehmen.« Ich stieg in den Krankenwagen und inhalierte, und auch das zitternde, weinende Mädchen inhalierte längere Zeit. Mittlerweile war eine ganze Herde Journalisten eingefallen, die sich sofort auf das zitternde Mädchen stürzte. Die Ärmste war den
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