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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Meist frühstücke ich nicht und trinke nur schnell eine Tasse Kaffee. Die Tozai-Linie ist ziemlich voll, aber wenn man nicht gerade zur Spitzenzeit fährt, geht es. Probleme mit Grabschern hatte ich auch nie.
    Ich bin sonst selten krank, aber am Morgen des 20. März fühlte ich mich nicht wohl. Mir war sogar ziemlich übel. Trotzdem machte ich mich auf den Weg und stieg in Otemachi in die Chiyoda-Linie um. »Also heute geht’s mir ja mies«, dachte ich und atmete tief durch. Plötzlich stockte mir irgendwie der Atem.
    Ich war im ersten Wagen der Chiyoda-Linie. Wenn man in Kasumigaseki ankommt, ist man von dort am schnellsten am Durchgang zur Hibiya-Linie. Die Bahn war nicht besonders voll. Die Sitzplätze waren zwar so ziemlich alle besetzt, aber nur wenige Leute standen. Man konnte durch den ganzen Wagen sehen.
    Ich stand ganz vorne an der Fahrerkabine und hielt mich an der Stange neben der Tür fest. Und als ich einatmete, verspürte ich – wie gesagt – plötzlich einen Schmerz. Nein, eigentlich keinen richtigen Schmerz. Eher blieb mir abrupt die Luft weg – als hätte ich einen starken Schlag erhalten. Ich hatte das grässliche Gefühl, mir würden die Eingeweide aus dem Munde quellen, wenn ich noch einen Atemzug täte. Um mich herum schien ein Vakuum zu herrschen. Ich schrieb das Gefühl meiner schlechten Verfassung zu, aber so elend hatte ich mich noch nie gefühlt. Ganz schlimm war das.
    Dann – jetzt im Nachhinein klingt das etwas komisch – dachte ich, vielleicht sei mein Großvater gestorben. Mein Großvater lebte in Ishikawa und war damals 94. Er ist voriges Jahr gestorben. Weil ich wusste, dass er gerade eine Erkältung hatte, dachte ich, er sei vielleicht gestorben, und ich hätte es gespürt.
    Kurz darauf kriegte ich wieder Luft. Aber als wir die Station Hibiya passierten, also eine Haltestelle vor Kasumigaseki, bekam ich einen furchtbaren Hustenanfall. Inzwischen hatten auch alle anderen Fahrgäste angefangen zu husten. Irgendetwas Seltsames war in diesem Zug im Gange. Alle waren jetzt sehr aufgeregt …
    Als wir in Kasumigaseki ankamen, stieg ich aus, ohne mir groß Gedanken zu machen. Einige andere Fahrgäste stiegen auch aus und riefen dem Stationsvorsteher zu: »Kommen Sie schnell, hier stimmt was nicht« und holten ihn in den Wagen. Was dann passierte, habe ich nicht gesehen, aber der Stationsvorsteher war der Mann, der den Beutel mit Sarin raustrug und später gestorben ist.
    Ich stieg also aus und machte mich auf den Weg zum Bahnsteig der Hibiya-Linie. An der Treppe hörte ich, wie der Alarm losging -Biiiiiiiieeeep! Aus meiner Zeit bei JR wusste ich sofort, dass es einen Unfall gegeben haben musste. Dann kam eine Ankündigung über Lautsprecher. Ich dachte gerade, »mach lieber, dass du hier rauskommst«, als ein Zug der Hibiya-Linie einlief.
    Inzwischen konnte ich an der Aufregung der Bahnbeamten erkennen, dass es sich nicht um einen herkömmlichen Unfall handelte. Und der Zug war völlig leer, ohne einen einzigen Fahrgast. Ich habe erst später davon erfahren, aber in diesem Zug war auch Sarin freigesetzt worden. In Kamiyacho oder sonstwo war es zur Katastrophe gekommen, man hatte alle Fahrgäste evakuiert und den Zug nach Kasumigaseki geschickt.
    Nach dem Alarmton kam die Anweisung: »Bitte, verlassen Sie unverzüglich den Bahnhof!«, und die Leute setzten sich in Richtung Ausgang in Bewegung. Mittlerweile fühlte ich mich immer mieser und wollte vor dem Verlassen des Bahnhofs lieber noch auf die Toilette gehen. Die Toiletten sind neben dem Büro des Stationsvorstehers.
    Als ich am Stationsbüro vorbeiging, sah ich darin drei Bahnbeamte auf dem Boden liegen. Es musste einen tödlichen Unfall gegeben haben. Nachdem ich auf der Toilette gewesen war, ging ich zum Ausgang am Handelsministerium. Das alles hatte insgesamt etwa zehn Minuten gedauert. In der Zwischenzeit waren die verletzten Stationsbeamten aus dem Büro nach draußen gebracht worden. Was ich sah, als ich oben ankam und mich umschaute, kann ich nur als »die Hölle« beschreiben. Die drei Männer lagen auf dem Boden. Jemand hatte ihnen Löffel in den Mund gesteckt, damit sie nicht an ihren eigenen Zungen erstickten. Ungefähr sechs andere Bahnbedienstete waren bei ihnen, aber sie saßen nur weinend, die Köpfe in die Hände gestützt, zwischen den Blumenbeeten. Ein Mädchen heulte laut. Ich war sprachlos, konnte mir nicht erklären, was geschehen war.
    Ich sagte zu einem der Beamten: »Ich habe früher bei JR gearbeitet. Ich
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