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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald
Autoren: Reinald Koch
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Die Astronomen des Tempels von Zaina hatten die Ankunft des Großen Wagens in der Woche nach der Beerenernte erwartet. So war es immer gewesen, und kein Mensch konnte sich erinnern, dass es je anders gewesen wäre. Darum standen die Kaufleute in Gruppen auf dem großen Hof des Tempels und besprachen das Ereignis.
    Ämar von Zaina hatte sich schon am Vormittag mit den Häuptern der drei Religionen im Heiligtum zur Beratung eingeschlossen, und die Wache hatte den Befehl, nur jenen Boten Zutritt zu gewähren, die Bewegungen an den Großen Wagen meldeten. Doch wurde die Geduld des Stadtfürsten auf eine harte Probe gestellt, denn vom Strand, wo sich die Großen Wagen der Adaporianer niedergelassen hatten, kam keine Nachricht.
    Der Aufschlag der elften Kugel im Zeitbecken hallte durch den Raum. Artom, der Chefpriester der Fysithi, schrak auf und blickte Ämar an. Er wusste, dass er als der Älteste hier die Meditation der Anwesenden unterbrechen musste. Darum hob er die Hände mit den Innenflächen gegen Ämar und verneigte sich sitzend.
    »Wohlgeborener Fürst, erhabener Vater der Stadt, Ämar von Zaina!« – Hier unterbrach er mit einer müden Geste die zeremonielle Anrede. Sein Blick streifte von Ämar über die Schar der versammelten Priester, bis er auf Gantu, dem Chef der Mathematithi, ruhen blieb.
    »Dieser hier«, fuhr er fort, indem er weiter in Gantus Richtung sah, »und ich haben dich in diesen Räumen erzogen. Wir waren die Väter deines Geistes und haben dich in unseren Religionen unterwiesen, bis du alles wusstest, was in den alten Büchern aufgezeichnet ist.
    Darum weiß ich, dass du, Ämar von Zaina, die Dummheit des Volkes vor den Tempeltüren kennst. Und darum weiß ich, dass du nicht die Sorge der Kaufherren im großen Tempelhof teilst, weil deine Sorgen anderer Art sind als ihre Befürchtungen.«
    Während der letzten Worte Artoms hatte sich die Miene des Stadtfürsten verfinstert, und die grün geschminkten Finger seiner Hände, die bisher regungslos auf der goldenen Tischplatte lagen, schienen plötzlich miteinander zu ringen.
    »Ihr Großen der drei Religionen!« sprach er nach einigen Augenblicken schweigenden Kampfes. – Er löste die Finger, hob seine Hände und ließ sie schwer auf den Tisch fallen.
    »Gut! – Es ist unter unserer Würde, so zu sprechen, als könnten wir nicht verstehen, was sehr bald geschehen wird. Es besteht kein Zweifel, dass der Tag des Unheils gekommen ist, von dem wir früher oft gesprochen haben.
    Es geziemt sich zwar nicht, dass ich von Zeiten rede, da ich noch als Lernender zu euren Füßen saß; jedoch werde ich nie vergessen, wie ich dich fast mit dem Dolch getötet hätte«, und der Fürst wies mit seiner schlanken, grünen Hand auf Gantu, »… weil du mir erklärtest, wie hilflos unser Volk gegen die Männer in den Großen Wagen ist. Diesmal – und ich glaube, das wissen wir alle – sind die Bäuche der Großen Wagen am Strand leer. – Die bleichen Fremden von Adapor werden kein rotes Gold ausladen und keine Rubinfäden, die in der Nacht leuchten! Welche Maßnahmen lassen sich also ergreifen, wenn die bleichen dürren Fremdlinge aus den Großen Wagen steigen und mit Gewalt die Essenz der Beeren rauben wollen?«
    Einige der jüngeren Priester waren empört von ihren Sesseln aufgesprungen und schrien wild gestikulierend durcheinander, bis sich auch der Chef der Fysithi schwerfällig von seinem Sitz erhob und seine große, massige Gestalt die Blicke aller auf sich zog.
    Sein aus Gold- und Rubinfäden gewirktes Gewand glühte prächtig im sattgelben Sonnenlicht, das durch Alabasterfenster in die Halle schien.
    »Söhne der drei Häuser, mancher von euch wird sich schon oft gefragt haben, welche Eitelkeit mich dazu bringt, meinen Schädel mit einer Haube aus Goldblech zu verhüllen!«
    Und wirklich verzogen einige Priester die Lippen zu einem teils verlegenen, teils ironischen Lächeln, denn die Fysithi wurden wegen ihres überaus eindrucksvollen Ornats beneidet, und auch Artoms goldene Haube galt als Auswuchs seiner Prunksucht.
    »Ja, ihr lächelt, ihr Narren! – Ich weiß – aber ich trage dies Blech nicht zum Schmuck auf dem Schädel. – Glotzt mich nicht an, ihr werdet alles erfahren; aber wisst, dass damals dreiundzwanzig Männer sterben mussten, weil wir ihr Schwätzen fürchteten!«
    Schwerfällig, wie er sich erhoben hatte, ließ sich der alte Priester wieder auf sein Polster sinken.
    »Zwei Jahre bevor unser Wohlgeborener Herr, Ämar, Fürst von
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