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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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noch die Geschichte des fremden Ichs.
    Das muss gar keine besonders ausgefallene, komplizierte oder raffinierte Geschichte sein. Irgendein notdürftiges Flickwerk genügt, denn die meisten haben ohnehin die Nase voll von vielschichtigen, komplexen Erzählungen und können leicht auf sie verzichten. Manche Menschen haben den Wunsch, sich ihres Ichs zu entledigen, da sie in ihren eigenen vielschichtigen Zusammenhängen keinen roten Faden entdecken konnten und darunter litten.
    Deshalb genügt es, wenn die neue Geschichte sehr einfach und nur »symbolisch« ist. Der Orden, der einem Soldaten im Krieg verliehen wird, muss auch nicht aus echtem Gold sein. Wenn er nur allgemein als Ehrung anerkannt ist, kann er auch aus billigem Blech bestehen.
    Shoko Asahara verfügte über die Begabung, seinen Anhängern irgendwelchen Schund als Geschichte zu verkaufen. Dabei kam es ihm entgegen, dass viele ohnehin auf der Suche nach eben so etwas waren. Aums Mythos war eine ziemlich krude, fast lächerliche Geschichte. Außenstehenden kommt sie vor wie ein wiedergekäuter Brei aus verschiedenen Mythen und Religionen. In einem Punkt allerdings, das muss man fairerweise zugeben, war sie einigermaßen kohärent: Sie war ein Aufruf zum Blutvergießen. 24
    So betrachtet, war Asahara auf eine beschränkte Weise ein meisterhafter Erzähler, der die Stimmung oder den Geist seiner Zeit sehr genau einzuschätzen vermochte. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Ideen und Bilder bloß Abfallprodukte anderer Gebäude waren. Wie E. T. in Spielbergs Film mit dem Schrott aus der Garage ein Gerät baut, mit dessen Hilfe er seinen Heimatplaneten kontaktieren kann, fügte Asahara Versatzstücke aus allem Möglichen zusammen und machte einen fließenden Strom daraus, der sein eigenes düsteres Inneres widerspiegelte. Die Mängel der Geschichte waren letztlich Asaharas eigene Mängel. Deshalb stellten sie auch für die Menschen, die sie lebten, keine Mängel dar, sondern sogar Vorteile. Aber diese Defizite nahmen bald tödliche Dimensionen an. Der Vernichtungsgedanke wurde allbeherrschend, bis es kein Zurück mehr gab.
    So sah also die Geschichte, die Aum präsentierte, von »ihrer« Seite gesehen aus. Quatsch, mögen Sie sagen, und das stimmt natürlich auch. Tatsächlich taten viele Asaharas absurde Geschichte mit einem Lachen ab. Sie lachten über den Mann, der sie erfunden hatte, und über diejenigen, die an ihn glaubten. Das Gelächter hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, aber wir lachten trotzdem laut.
    Aber hatte denn unsere Seite eine glaubwürdige Geschichte dagegenzusetzen? Hatten wir denn eine Geschichte anzubieten, die die Kraft besaß, Asaharas absurde Geschichte zu besiegen?
    In dieser Frage erkenne ich eine gewaltige Aufgabe. Ich bin Schriftsteller, und der Beruf eines Schriftstellers ist es, »Geschichten« zu erzählen. Diese Aufgabe erscheint mir gewaltig, aber ich muss mich ihr von nun an mit verstärkter Aufmerksamkeit widmen. Mir ist bewusst geworden, dass ich mein eigenes Kommunikationsgerät bauen muss, und wenn ich dazu jedes Restchen Schrott und jedes Defizit in meinem Inneren zusammenkratzen muss. (Jetzt wo ich es niedergeschrieben habe, stelle ich mit einiger Überraschung fest, dass ich das in meiner Arbeit als Schriftsteller schon immer versucht habe!)
    Und was ist mit Ihnen? (Ich schreibe in der zweiten Person, aber das schließt mich natürlich mit ein.)
    Haben Sie nicht auch einen Teil Ihres Ichs einer Person (oder Sache) überschrieben und dafür eine »Geschichte« erhalten? Hat nicht jeder von uns einen Teil seiner Persönlichkeit einem System oder einer Ordnung übereignet? Und hat nicht dieses System von uns irgendwann etwas »Wahnsinniges« gefordert? Ist die Geschichte, die Sie leben, wirklich und wahrhaftig Ihre eigene? Sind Ihre Träume auch wirklich Ihre Träume? Könnten sie nicht auch die eines anderen sein und sich irgendwann plötzlich in Alpträume verwandeln?
    Müssten wir uns über diese Fragen nicht Klarheit verschaffen, bevor wir das Unbehagen loswerden können, das uns nach dem Sarin-Anschlag geblieben ist?
    4  Über das Gedächtnis
    Ich habe mit dem Sammeln des Materials für dieses Buch neun Monate nach dem Anschlag begonnen und dann ein Jahr daran gearbeitet.
    Das heißt, zum Zeitpunkt der Interviews war schon eine gewisse Zeit vergangen, in der sich die Geschichte »abgekühlt« hatte. Da es sich aber um eine sehr tiefgehende Erfahrung handelte, waren die Erinnerungen meiner Gesprächspartner noch
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