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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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tatsächlich zu tieferen Einsichten in das Wesen meiner Heimat geführt hat. Während der Interviews bin ich einer großen Zahl meiner Landsleute begegnet, habe ihre Geschichte gehört und daraus gelernt, welche Konsequenz es für einen japanischen Menschen hat, mit einer starken Aggression wie dem Sarin-Anschlag konfrontiert zu sein. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich auf einer gewissen Ebene mein Ego als Autor in dieses Buch eingebracht habe. Das nicht zuzugeben, wäre Heuchelei.
    Natürlich war ich bei den Interviews gezwungen, in meiner Funktion als Schriftsteller zurücktreten. Es hat mich tief bewegt, den Opfern persönlich gegenüberzusitzen und ihre Erlebnisse aus erster Hand zu vernehmen. Wenn Sie die hier zusammengetragenen Berichte gelesen haben, werden Sie verstehen, was ich meine. Mit ihrer Tiefe und Komplexität haben sie alle meine Erwartungen übertroffen. Außerdem wurde mir sehr deutlich vor Augen geführt, wie wenig ich über den Anschlag wusste. Die Fakten wogen schwerer, als ich je vermutet hätte.
    Nach einer Weile gab ich es beinahe ganz auf, darüber nachzugrübeln, was richtig oder falsch, normal oder verrückt war, wer Verantwortung trug und wer nicht. Diese Fragen spielten keine Rolle mehr. Das endgültige Urteil darüber lag ohnehin nicht bei mir; das machte mir das Zuhören leichter. Ich konnte mich entspannen und das Erzählte einfach in mich aufnehmen. Wie eine unauffällige Spinne, die in einer dunklen Ecke an der Decke sitzt, speicherte ich die Worte in mir, um sie später zu einem neuen erzählerischen Netz zu verspinnen.
    Besonders nach den Gesprächen mit der Familie von Eiji Wada, der an der Haltestelle Kodemmacho ums Leben kam, und mit »Shizuko Akashi«, die ihr Gedächtnis und ihre Sprache verlor und noch immer im Krankenhaus behandelt wird, musste ich mich ernsthaft mit Sinn und Wert meines Schreibens auseinander setzen. Wie wahrheitsgetreu und lebendig konnten meine Worte dem Leser die verschiedenen Gefühlszustände (Angst, Verzweiflung, Wut, Benommenheit, Entfremdung, Verwirrung, Hoffnung und so fort) jener Menschen vermitteln? Das beschäftigte mich noch lange nach den Interviews.
    Überdies bin ich mir ziemlich sicher, dass ich während der Gespräche einige Menschen verletzt habe – ob nun aus Gedankenlosigkeit, Unwissenheit oder einfach aufgrund eines menschlichen Defizits meinerseits.
    Ich bin nie ein sehr gewandter Redner gewesen. Oft konnte ich meine Gefühle nicht in die passenden Worte fassen. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle aufrichtig bei all jenen entschuldigen, die ich vielleicht aus Ungeschick verletzt habe.
    Ich bin aus meiner wohlbehüteten, intakten Welt zu ihnen hereingeschneit und hatte stets die Möglichkeit, wieder zu gehen. Wie leicht hätten sie mich mit dem Argument abweisen können, ich würde sie ja doch nie verstehen.
    6  Höhere Gewalt
    Das Erdbeben in Kobe im Januar und der U-Bahn-Anschlag in Tokyo im März 1995 gehören zu den schwersten Katastrophen in der japanischen Nachkriegsgeschichte. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese Ereignisse einen deutlichen Wandel im japanischen Bewusstsein hervorgerufen haben. Die beiden Katastrophen sind als einschneidende Ereignisse unauslöschlich in unser kollektives Unterbewusstsein eingegangen.
    Dass Erdbeben und Anschlag zufällig in so kurzem zeitlichen Abstand aufeinander folgten, verstärkte den Schock. In Zusammenhang mit dem Platzen der »Bubble Economy«, das das Ende eines gewaltigen Wirtschaftsbooms markierte, leiteten sie eine Zeit der kritischen Hinterfragung ein, die bis in die tiefsten Wurzeln Japans vordrang. Es schien, als hätten sich alle Katastrophen verschworen, auf einmal über Japan hereinzubrechen.
    Beiden Ereignissen gemeinsam war das Element der »höheren Gewalt«. Natürlich hatte die Gewalt völlig unterschiedliche Ursachen. Bei dem einen Ereignis handelte es sich um eine unvermeidliche Naturkatastrophe, während das andere ein vermeidbares menschliches Verbrechen war. Selbstverständlich ist es unsinnig, die beiden in Beziehung zueinander zu setzen.
    Doch bei meinen Gesprächen mit den Opfern des Gasanschlags entstand in mir der Eindruck, dass die Ereignisse ähnlich weitreichende Folgen hatten.
    Viele sprachen von ihrem »tiefen Hass auf Aum«, konnten ihren Hass aber nicht kanalisieren und schienen daher verunsichert zu sein. Wohin oder an wen sollten sie sich mit ihrem Hass wenden? Hinzu kam der Umstand, dass es keine gesicherten Hinweise auf den
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