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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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im dunklen Untergrund von Tokyo Schwärme von Schwärzlingen freigelassen. Allein die Vorstellung erfüllt mich mit Grauen, Angst und Ekel. Auch wenn es banal klingt, muss ich es laut aussprechen: »Das hätten sie niemals tun dürfen. Aus keinem erdenklichen Grund.«

Nachwort 35

    Während meiner Arbeit an diesem Buch besuchte ich so oft wie möglich die Gerichtsverhandlungen gegen die wegen des Giftgasanschlags auf die U-Bahn in Tokyo angeklagten Mitglieder der Aum-Sekte. Ich wollte diese Menschen mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, was sie zu sagen hatten, um zu erfahren, wer sie waren und was sie dachten. Stattdessen wurde ich Zeuge unendlich trauriger, hoffnungsloser und bedrückender Szenen. Der Gerichtssaal kam mir vor wie ein Raum ohne Ausgang. Nachdem wir doch irgendwie hineingelangt waren, hatte er sich in eine alptraumhafte Sphäre verwandelt, aus der es kein Entkommen gab.
    Die meisten Angeklagten scheinen jeden Glauben an ihren Guru Shoko Asahara verloren zu haben. Der angebetete Meister hat sich als falscher Prophet entpuppt, und sie müssen zunehmend erkennen, wie sehr er sie für seine wahnsinnigen Zwecke missbraucht hat. Dass sie durch ihren Gehorsam grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, hat sie in tiefste Selbstzweifel gestürzt und sie zeigen Reue.
    Zumeist sagen sie, wenn sie von ihrem Guru sprechen, heute nur noch »Asahara«, ohne respektvollen Titel. Bisweilen schwingt sogar ein abfälliger Ton mit. Ihre Einsicht und Angst wirken aufrichtig auf mich. Kaum vorstellbar, dass diese Leute sich zu einer so abscheulichen, sinnlosen Tat überreden ließen.
    Andererseits haben sie an einem gewissen Punkt ihres Lebens alle weltlichen Bindungen gelöst und bei Aum Shinrikyo ein mystisches Ideal gesucht – was sie offenbar nicht bereuen.
    Ganz deutlich wird dies, wenn die Angeklagten – vom Richter zu Einzelheiten befragt – die Lehre ihrer Gemeinschaft zu erklären suchen. Dabei fällt häufig der Satz: »Für die Allgemeinheit ist das vielleicht schwer zu verstehen, aber …« Diese Ausdrucksweise belegt meines Erachtens, dass sie eine spirituelle Überlegenheit gegenüber der »Allgemeinheit« für sich in Anspruch nehmen und sich in gewisser Weise noch immer für auserwählt halten. Sie sprechen es nicht aus, aber ich lese darin etwa die folgende Botschaft: »Die Verbrechen, die wir begangen haben, tun uns unendlich leid. Wir haben Fehler gemacht. Verantwortlich ist jedoch Asahara, der uns den Befehl dazu gegeben hat. Wenn er nicht den Verstand verloren hätte, hätten wir unsere aufrichtigen religiösen Ziele friedlich, ohne jemanden zu behelligen, verfolgen können.« Kurz gesagt: »Unsere Mittel waren falsch. Wir bereuen, was wir getan haben. Dennoch sind die Ziele von Aum im Kern nicht falsch, und es ist nicht notwendig, sie zu verwerfen.«
    Auf diese grundsätzliche Überzeugung von der »Richtigkeit der Ziele« bin ich nicht nur bei meinen Interviews mit Aum-Mitgliedern gestoßen, sondern auch bei jenen, die Aum verlassen haben und die Gemeinschaft jetzt offen kritisieren. Allen habe ich die gleiche Frage gestellt: Ob sie bereuen, Aum je beigetreten zu sein. Fast alle haben dies verneint; kaum jemand betrachtete seine Zeit bei Aum als vergeudet. Warum wohl? Das ist leicht zu beantworten: Diese Menschen entdeckten bei Aum eine Reinheit der Absichten, die sie im alltäglichen Leben nicht fanden. Selbst wenn alles mit einem schrecklichen Alptraum zu Ende ging, ist ihnen die warme, strahlende Erinnerung an den Frieden geblieben, den sie anfangs bei Aum fanden. Dieses Gefühl ist nicht leicht zu ersetzen.
    Man kann also sagen, dass Aum in ihnen noch lebendig ist und ihnen sogar eine gewisse Energie verleiht. Das bedeutet nicht, dass sie möglicherweise zu Aum zurückkehren würden. Sie wissen jetzt, dass es sich um eine falsche und gefährliche Ideologie handelte und dass ihre Beziehung zu Aum voller Widersprüche und Defizite war. Dennoch habe ich den Eindruck, dass eine Idealvorstellung von Aum in ihnen weiterlebt, eine lichte, utopische Erinnerung, die sich ihnen tief eingeprägt hat. Und sollte eines Tages wieder ein ähnliches Licht vor ihnen aufleuchten – es muss nicht einmal eine Sekte sein –, werden die alten Erinnerungen sie vielleicht wieder dorthin ziehen. Daher bergen »Aum-ähnliche Lehren« für unsere Gesellschaft im Augenblick größere Gefahren als Aum selbst.
    Nach dem Sarin-Anschlag richteten sich aller Augen und Ohren auf Aum
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