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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Autoren: Kai Meyer
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Die Quappe

    Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein.
    Jolly konnte seit ihrer Geburt über Wasser gehen. Mit den Jahren hatte sie gelernt, sich mühelos auf der schwankenden Oberfläche zu bewegen. Für sie fühlte es sich an, als liefe sie durch eine Pfütze. Flink sprang sie von einer Woge zur nächsten und wich den schaumigen Wellenkämmen aus, die manchmal zu tückischen Stolperfallen wurden. Um sie herum tobte eine Seeschlacht. Kanonenkugeln pfiffen ihr um die Ohren, aber selten kam ihr eine so nahe, dass sie den Luftzug spürte. Beißender Rauch trieb über das Wasser zwischen den beiden Segelschiffen und vernebelte Jollys Sicht. Das Knarren der Planken und Flattern der großen Segel mischte sich mit dem Geschützdonner. Der Qualm des entzündeten Schwarzpulvers brannte in ihren Augen. Sie hatte diesen Geruch noch nie gemocht, ganz im Gegensatz zu den anderen Piraten:
    Ihre Freunde von der Mageren Maddy sagten, nichts rieche so gut wie der Duft abgefeuerter Kanonen. Und wenn dann in der Ferne die Bordwände feindlicher Schiffe barsten und das Geschrei der Gegner über das Meer wehte, war das besser als jedes Gelage mit Rum und Gin, Jolly mochte Rum nicht besonders, genauso wenig wie den Qualm der Bordkanonen. Aber ganz gleich was ihre Nase davon hielt - sie kannte ihre Aufgabe, und sie würde sie zu Ende bringen.
    Bis zu dem gegnerischen Schiff, einem spanischen Dreimaster mit zwei Kanonendecks und dreimal so vielen Geschützen wie auf der Mageren Maddy, waren es noch fünfzig Schritt. Die Galeone war rundherum mit prachtvollen Verzierungen geschmückt, geschnitzten Gesichtern, die dann und wann wie vorwitzige Fabelwesen durch die Rauchwände lugten. Manche wirkten selbst auf die Entfernung so echt, dass sie jeden Augenblick zum Leben erwachen mochten. Die Beiboote des Spaniers befanden sich an den Seiten des Rumpfes; eines war von einer Kugel der Maddy gestreift worden, ein Teil der Aufhängung war zerfetzt, und nun schaukelte das kleine Boot bei jeder Erschütterung gegen den mächtigen Rumpf und erzeugte dunkle, hohle Laute.
    Die Strömung war auf Jollys Seite und trieb sie während ihres Laufs noch schneller auf die Galeone zu. Jolly musste nur einen Fuß auf das Wasser setzen, um zu spüren, in welche Richtung sich die See bewegte, manchmal gar, ob hinterm Horizont Unwetter aufzogen oder Stürme tobten. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, längere Zeit an Land zu verbringen. Sie brauchte die Vertrautheit des Ozeans, das Gefühl des bodenlosen Abgrunds unter ihren Füßen. So wie andere in großen Höhen Schwindel packte, so wurde Jolly von Panik ergriffen, wenn sie sich allzu weit vom Meer und seiner tosenden Brandung entfernte.
    Inzwischen lief sie ein wenig geduckt, auch wenn auf dem Deck des Spaniers noch niemand auf sie aufmerksam geworden war. Sonderbarerweise entdeckte sie hinter den gedrechselten Geländern der Reling keine Menschenseele. Eine Galeone wie diese trug mindestens zweihundert Mann an Bord, und alle mussten damit rechnen, dass die Piraten von der Mageren Maddy versuchen würden, das spanische Schiff zu entern. Warum also zeigte sich niemand an Deck?
    Normalerweise hätte Captain Bannon, der Anführer der Freibeuter und Jollys bester Freund, sich von einem Schiff wie diesem fern gehalten: zu groß, zu stark, zu schwer bewaffnet. Ganz zu schweigen davon, dass auf der Mageren Maddy gerade einmal siebzig Piraten Platz fanden und sie den Spaniern im Kampf Mann gegen Mann zahlenmäßig weit unterlegen waren.
    Aber als das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hatte trotz allem einiges dafür gesprochen, dass es ein lohnender Fang sein könnte. Captain Bannon persönlich hatte den Ausguck der Maddy erklommen und die Silhouette der Galeone lange mit dem Fernglas studiert. »Sie haben die Segel gerefft«, hatte er zu seiner Mannschaft hinabgerufen. »Sieht aus, als wären sie in Schwierigkeiten.«
    Das Meer war an dieser Stelle zu tief zum Ankern. Das bedeutete, dass sich der Spanier trotz guter Windverhältnisse treiben ließ - was einfach keinen Sinn ergab. Aber Bannon wäre nicht einer der durchtriebensten Piraten der Karibischen See gewesen, hätte er sich in solchen Fällen nicht von seiner Nase und seiner Neugier leiten lassen.
    »Ich hab ein seltsames Gefühl dabei«, hatte er gesagt, bevor er seine
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