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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Autoren: Kai Meyer
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Geisterhändler neben Soledad an der Reling.
    Sie konnte nichts anderes tun, als nach vorn zu starren, mit weiten Augen, offenen Lippen. Sie nahm nicht wahr, wie sich die anderen an Bord verhielten, was Walker sagte oder dachte, ob Buenaventure das Steuer losließ oder was der Hexhermetische Holzwurm in seinem Käfig tat.
    Sie konnte nur… sehen.
    Der Nebelring umschloss ein kreisrundes Wasserfeld von zwei, drei Meilen Durchmesser, vielleicht noch größer. Der Sonnenaufgang glühte und flirrte auf einem Wald aus Dächern und Türmen, einem vielfarbigen Sammelsurium aus niedrigen Behausungen, festungsartigen Zinnenwällen und Palästen in Gepräge und Vielgestalt bizarrer Zuckergusstorten. Es gab Brücken zwischen spitzen Giebeln und Aussichtsplattformen, manche überdacht, andere offen und so fein gearbeitet, als bestünden sie aus Porzellan. Da waren Anordnungen von Hallen und stacheligen Zitadellen; frei schwebende Treppen, die sich wie Spinnfäden zwischen Fassaden, Türen und Luken spannten; Wasserfälle, die aus Öffnungen in den Fassaden sprudelten und in unsichtbaren Kanälen und Reservoirs im Gewirr der Gebäude verschwanden. Kaum etwas von alldem schien einen offensichtlichen, praktischen Sinn zu haben, so als hätten die Baumeister Aeleniums ihrem Empfinden von Schönheit und Eleganz freien Lauf gelassen, ohne sich Gedanken über die Bewohnbarkeit der schwimmenden Stadt zu machen.
    Inmitten der verschachtelten, verbauten, verworrenen Strukturen erhob sich ein weißer Bergkegel, sehr steil und gleichförmig von allen Seiten. Seine Spitze war gerade abgetragen, wie von einer Messerklinge, was ihn wie einen Vulkankrater erscheinen ließ. Ob dort oben allerdings eine Öffnung klaffte oder ob der künstliche Gipfel in einer Plattform endete, war vom Meer aus nicht zu erkennen. Wasser strömte entlang tiefer Einschnitte in seinen Flanken und bildete ein goldenes Muster, als es die Morgenglut reflektierte.
    Breite, eng zulaufende Stege ragten rund um Aelenium ins Meer hinaus. Soledad brauchte einen Moment, ehe sie begriff, was diese Stege tatsächlich waren: die Spitzen eines gigantischen Sterns.
    Aelenium stand auf einem Seestern.
    Ein Seestern, der flach auf dem Wasser trieb, so groß wie eine Insel, bebaut bis zu seinen äußeren Rändern.
    Und, überhaupt… bebaut?
    Im Näherkommen erkannte Soledad, dass die Sternstadt nicht künstlich errichtet worden war, wie sie erst angenommen hatte. Alle Spitzen, Stacheln, Dächer und Wände bestanden aus Korallen, als hätte sich über Jahrmillionen hinweg Schicht um Schicht auf der Oberseite des Seesterns angesammelt und dabei jenes Meisterstück geschaffen, das man auf den ersten Blick sehr wohl für das Werk eines übereifrigen Baumeisters halten konnte.
    Musste es an der Unterseite nicht genauso aussehen? Gab es dort unten ein bizarres Spiegelbild des oberen Teils der Stadt? Verlassene, vom Meer durchflutete Räume und endlose Fluchten; Turmspitzen, an denen Muschelkolonien wucherten und Krebse nach Plankton suchten; menschenleere Säle, durch die nur dann und wann ein Raubfisch glitt, in majestätischer Dunkelheit und Stille?
    Wir werden es erfahren, durchfuhr es sie, denn erst jetzt wurde ihr klar, dass sie tatsächlich Gäste in diesem wundersamen Gebilde sein würden. Sie waren Verbündete, vielleicht gar Freunde. Sie hatten nichts zu befürchten.
    Und doch war da ein bitterer Beigeschmack unter all ihrem Staunen und Wundern, eine tiefe Angst. Panik, fast.
    Was war das für ein Ort? Woher kam er?
    Aelenium mochte gewachsen sein, aus tausenden und abertausenden Tonnen Korallen, aber das konnte nicht durch bloßen Zufall geschehen sein. Die Treppen, Stege und Friese hatten sich zu einem Zweck aufgetürmt, mit der Gemächlichkeit der Äonen. Zu dem Zweck, bewohnt zu werden.
    Aber von wem?
    Noch mehr sah sie jetzt, hoch über den Korallenkathedralen und Meerschaumminaretten: riesenhafte Rochenwesen mit purpurgeaderten Schwingen, zwischen denen Menschen saßen, winzige Reiter im Vergleich zu den gewaltigen Kreaturen. Jetzt brachen gleich drei von ihnen aus der Dunstwand, in einer flockigen Explosion aus Nebelfetzen. Soledad erkannte die Geräusche der Schwingen wieder, es waren dieselben wie vorhin, als etwas die Mastspitzen umkreist hatte.
    Aber nicht nur am Himmel sah sie Reiter, sondern auch auf dem Wasser. Menschen auf knochigen Seepferden mit langen, spitzen Schnauzen und tellergroßen Augen, verhornten Leibern und graziös navigierenden Schwänzen, mit deren
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