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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Autoren: Kai Meyer
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abzulenken. Auch der Captain war nur noch als Umriss im Nebel zu erkennen.
    »Jedenfalls habe ich sie nicht abdrehen sehen«, gab er zurück. »Würde mich auch wundern, wenn Constantine nach so vielen Tagen aufgeben sollte.« Er sprach leise mit Buenaventure, dann wandte er sich wieder den anderen zu. »Seid still. Wenn sie uns nicht hören können, verlieren sie wahrscheinlich unsere Spur.«
    Eine ganze Weile lang war nichts als das Knarren der Planken und Takelage zu hören, begleitet vom unmerklichen Plätschern der Gischt am Rumpf.
    Nach Minuten, einer Ewigkeit, ertönte ein ohrenbetäubendes Knirschen und Krachen, gefolgt von einem grässlichen Bersten.
    Soledad wartete auf einen Stoß, der sie von den Füßen riss - doch der kam nicht.
    Für einen Moment war sie überzeugt gewesen, die
    Carfax sei auf Grund gelaufen. Dabei waren die Laute weit hinter ihnen erklungen. Die winzigen Nebeltröpfchen hatten sie herangetragen wie Abermillionen winziger Münder, die ihnen eine Botschaft übermittelten.
    Schreie wehten zu ihnen herüber.
    Wildes Kreischen, jämmerlich und Mitleid erregend. Schreie aus vielen Kehlen, in dutzenden von Stimmlagen, jeder einzelne so mutlos und endgültig, dass es keinen Zweifel gab an dem, was diesen armen Seelen widerfuhr.
    Es waren Todesschreie.
    Irgendwo hinter ihnen, tief im dichten Nebel, starb die Mannschaft der Palomino. Und ihr Schiff starb mit ihnen.
    »Großer Gott«, flüsterte Soledad. Sie war vollkommen starr, nichts an ihr bewegte sich. Selbst ihre Lippen fühlten sich an wie vereist.
    Die Hand des Geisterhändlers krallte sich als leichenhafter Schemen um die Reling.
    »Das waren nicht die Mächte Aeleniums«, sagte er tonlos. »So erbarmungslos sind sie nicht.«
    Und dann, wie auf ein geheimes Stichwort, wanderten ihrer beider Blicke zum Bug.
    Dort saß Munk im Schneidersitz. Er hatte die Muscheln vor sich im Kreis ausgelegt. Darin, feurig lodernd wie die Pupille eines Seeungeheuers, schwebte eine Perle. Munk machte eine Handbewegung, viel beiläufiger als früher; sofort zuckte die Perle in eine offene Muschel und wurde von den schnappenden Kiefern verschlungen.
    »War er das?« Soledad erkannte erst, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte, als der Geisterhändler abermals nickte. Nur einmal, ganz kurz.
    »Bei den Göttern«, entfuhr es ihm so leise, dass nur Soledad ihn hören konnte. Zum ersten Mal glaubte sie, so etwas wie Furcht in seiner Stimme zu erkennen. Ihre Knie bebten, in ihrem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis.
    »Munk?«, fragte sie.
    Der Junge hob den Kopf und blickte sie an. Sein Lächeln im Nebel war triumphierend und eisig.
    Sie wollte sich zwingen, zu ihm hinüberzugehen, als ein heftiger Luftzug den Nebel über ihren Köpfen aufpeitschte, winzige Strudel in den weißen Schwaden erzeugte und sie fast von den Beinen riss. Etwas Großes schwebte über das Deck der Carfax hinweg, oberhalb des zerstörten Großmastes. Ebenso schnell war es wieder im Nebel verschwunden. Nur noch leise, rauschende Laute drangen gedämpft an Soledads Ohren, das Heben und Senken mächtiger Schwingen.
    »Was war das?«
    »Ganz ruhig«, sagte der Geisterhändler besänftigend. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Das war einer der ersten Vorboten Aeleniums. Wir erreichen gleich die andere Seite. Der Nebel wird sich jeden Augenblick lichten.«
    Munk packte in aller Seelenruhe seine Muscheln ein. Schweiß stand auf seiner Stirn und tränkte seine Kleidung, aber er störte sich nicht daran. Nur seine Finger zitterten leicht, und sein Atem ging ein wenig rascher.
    Soledad war nicht sicher, was ihr im Augenblick größere Angst einjagte: Munks Zauber, der die Palomino in ein nasses Grab gerissen hatte, oder die mächtigen Wesen, die unsichtbar um die Masten schwebten.
    Sie zwang sich, ihren Blick von dem Jungen zu lösen. Später würde Zeit genug sein, sich mit ihm zu befassen. Mit dem, was er getan hatte - und wie er es getan hatte. Und was er womöglich noch anrichten konnte, im Guten wie im Schlechten.
    Über den Bug hinweg sah sie dem rotgelben Glimmen entgegen, das jetzt durch den Dunst dämmerte: der Morgenhimmel über Aelenium. Ein leuchtendes Panorama wie ein Hauch von Goldstaub auf einem Meer aus Scharlach. Mit jeder Woge, die sich am Bug der Carfax brach, nahm auch das Wasser mehr und mehr die Färbung des Himmels an, bis der Nebel schließlich vollkommen auseinander driftete und sie in ein Fanal aus Rot und Kupfer entließ.
    »Aelenium«, flüsterte der
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