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Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer

Titel: Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Autoren: Kai Meyer
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natürlich.
    Oder vielleicht… nicht ganz allein.
    Eine Spinne war mit ihr in der Figur eingeschlossen! Sie musste an Bord der Galeone in Jollys Umhängetasche gekrochen sein.
    Jetzt kroch sie frei auf ihrem Körper herum.
    Jolly begann in der engen Röhre zu strampeln, hämmerte mit Händen und Füßen gegen das Holz, ehe sie ihre Panik so weit unter Kontrolle bekam, dass sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
    Lieg ganz ruhig. Sei ganz still.
    Und horche!
    Jolly hielt den Atem an. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper wie ein Panzer aus Eis, aber auch das war kein Schutz vor den Gifthauern der Spinne. Sie lauschte auf ihren eigenen Herzschlag, nicht dumpf, nicht leise, sondern so laut, dass sie glaubte, er müsse jeden Augenblick ihren Brustkorb sprengen.
    Da war noch ein Geräusch. Kaum hörbar. Wie Fingerspitzen, die sanft auf einer hohlen Oberfläche trommelten.
    Die Spinne krabbelte über das Holz, irgendwo weiter unten.
    Jolly biss sich auf die Unterlippe, um ja keinen Laut von sich zu geben. Wenn sie nur etwas hätte sehen können! Ein winziger Lichtschimmer würde vielleicht schon genügen. Aber sie wagte nicht, eine Hand zu heben, um die Luftklappe über ihrem Gesicht zu öffnen, aus Angst, die Spinne damit erst recht zu reizen.
    Irgendwie musste sie das Biest loswerden.
    Sie atmete ganz langsam ein und aus, dann hielt sie erneut die Luft an. Wurde so starr, als sei sie selbst ein Stück Holz. Sie musste die Spinne in Sicherheit wiegen, durfte sie auf gar keinen Fall zu einem Angriff verleiten.
    Und dann, wenn sie genau wusste, wo sich das Mistvieh gerade befand - Etwas zwickte sie am Rücken ihrer rechten Hand.
    Jolly stieß einen wilden Schrei aus und schlug die Hand mit aller Kraft gegen die Innenwand. Der Spinnenkörper war härter, als sie erwartet hatte, die Borsten stachen wie Nadeln, aber Jolly schlug dennoch erneut zu, wieder und wieder. Die zuckenden Beine legten sich um ihren Handrücken wie Finger, sie spürte ihren Druck, dann ihr Erschlaffen.
    Angewidert schüttelte sie ihren Arm, bis der leblose Spinnenleib hinunterglitt.
    Es spielte keine Rolle mehr. Zu spät.
    Die Spinne hatte zugebissen.
    Jolly spürte, wie ihr die Sinne schwanden. Die Schwärze im Inneren der treibenden Galionsfigur gewann an Festigkeit, raubte ihr den Atem, schien ölig und kalt in ihre Nase, ihre Augen, in ihren Mund zu fließen.
    Ich werde sterben, dachte sie mit verblüffender Sachlichkeit.
    Noch einmal hob sie die Hand, ihre Finger fanden den Schieber über ihrem Gesicht, zogen ihn mit letzter Kraft beiseite.
    Das Blau des Himmels über ihr stach wie Stahlklingen in ihre Pupillen. Salzige Luft strömte in den Hohlraum.
    Atme, durchfuhr es sie.
    Nun atme schon, verdammt!
    Der Himmel verblasste, dann das Licht, die ganze Welt. Das Spinnengift pulste durch ihre Adern und presste jeden Gedanken aus ihren Poren.
    Jollys Bewusstsein driftete davon wie Treibholz auf einem nachtschwarzen Ozean.

Treibgut

    Der Junge saß auf einem Felsen hoch über der Bucht, die sich vor ihm wie ein Fenster zum Meer öffnete. Wann immer sein Vater ihn von seinen Pflichten auf der Farm entband, kam er hier herauf, um zu träumen: vom Meer und einem Leben auf den großen, prachtvollen Schiffen, die er dann und wann am Horizont sah.
    Munks Hand lag auf dem rostigen Kanonenrohr, in dessen Mündung im letzten Jahr ein Vogelpaar genistet hatte. Er hatte gewartet, bis die Kleinen ausgeflogen waren, dann erst hatte er das Nest sorgfältig entfernt. Er wusste nicht, wie man eine Kanone bediente, dennoch hielt er es für eine gute Idee, dass sie jederzeit einsatzbereit war. Seine Eltern, Tabakfarmer und die einzigen Siedler auf dem winzigen Eiland, ahnten nichts von dem verrotteten Geschütz über der Bucht. Die Kanone war Munks Geheimnis. So wie dieser ganze Ort, diese Zuflucht auf dem Felsen mit Blick über die Bucht und das türkisblaue Karibische Meer.
    Er hatte oft gehofft, von hier oben aus Piraten zu sehen, die stolzen Schaluppen und Brigantinen der Freibeuter, die die Karibik wie keinen anderen Ort der Weltmeere in Angst und Schrecken versetzten. Er wünschte sich sehnlich, einmal eine der schwarzen Flaggen am Horizont zu entdecken, mit dem Symbol des Totenschädels über gekreuzten Knochen oder Säbeln, den Glanz des Goldes, der aus ihren Ladeluken strahlte und ihre Segel in das Licht eines ewigen Sonnenaufgangs tauchte.
    Träumereien, sagte seine Mutter. Versponnenes Zeug, sein Vater. Und beide hatten ihn mehr als einmal davor
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