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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Shinrikyo. Immer wieder wurde die Frage laut, warum »eine so hoch gebildete Elite« sich einer so absurden und gefährlichen Sekte zugewandt hatte. Tatsächlich setzte sich die Führungsspitze von Aum fast ausschließlich aus gut ausgebildeten Akademikern zusammen. So ist es kein Wunder, dass die Gesellschaft davon schockiert war. Der Umstand, dass Menschen mit derart vielversprechenden Aufstiegsmöglichkeiten so leicht auf den Status, den die Gesellschaft ihnen anbietet, verzichteten, um sich stattdessen einer Sekte anzuschließen, gilt vielen Beobachtern als ernst zu nehmendes Indiz für einen entscheidenden Defekt des japanischen Erziehungssystems.
    Während meiner Gespräche mit Mitgliedern und auch ehemaligen Mitgliedern von Aum gewann ich jedoch den deutlichen Eindruck, dass sie diesen Weg nicht trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite eingeschlagen hatten, sondern im Gegenteil gerade deswegen .
    Hier bietet sich ein Vergleich mit der Rolle an, die in der Vorkriegszeit für viele japanische Intellektuelle die Mandschurei gespielt hat. 1932 hatte Japan auf chinesischem Boden den Marionettenstaat »Manchukuo« errichtet, und wie bei Aum Shinrikyo gab eine akademische Elite – die besten Verwaltungstechniker, Naturwissenschaftler und Gelehrten – eine vielversprechende Zukunft in Japan auf, um neue Möglichkeiten jenseits des Ozeans zu suchen. Die meisten von ihnen waren jung, voller ehrgeiziger Pläne, sehr begabt und gut ausgebildet. Wenn sie jedoch den restriktiven Strukturen des japanischen Staates unterworfen blieben, würden sie ihre Fähigkeiten niemals ganz zur Wirkung bringen können. Genau aus diesem Grund entschieden sie sich für jenes flexiblere Land, das Experimente zuließ, auch wenn dies bedeutete, einen vorgegebenen, sicheren Pfad zu verlassen. In diesem Punkt waren jene jungen Intellektuellen idealistisch und ihre Motive rein. Zudem waren sie überzeugt, einem höheren Zweck zu dienen und sich auf dem richtigen Weg zu befinden.
    Aber ihrem Unternehmen fehlte ein entscheidender Aspekt. Heute wissen wir, dass dasjenige, was fehlte, »ein mehrdimensionales historisches Bewusstsein« war; oder, auf konkreterer Ebene, eine »Verbindung zwischen Wort und Tat«. Dagegen begannen beschönigende Schlagworte wie »die Harmonie der fünf Völker« oder »die ganze Welt unter einem Dach« ein Eigenleben zu führen, während im Hintergrund die blutige Realität das moralische Vakuum füllte, bis der Sturmwind der Geschichte die ehrgeizigen Technokraten davonwirbelte.
    Der Sarin-Anschlag der Aum-Sekte liegt noch nicht lange genug zurück, als dass alle seine Implikationen genau zu analysieren wären. Dennoch lässt sich dasjenige, was ich über die Bedeutung der Mandschurei gesagt habe, in eingeschränkter Form auch auf Aum anwenden. Beiden Bewegungen fehlte die Einbindung in einen größeren Zusammenhang, und aus diesem Mangel an Wirklichkeitsbezug ergab sich die besagte Diskrepanz zwischen Sprache und Handeln.
    Zweifellos hatten die Angehörigen des Aum-Ministeriums für Wissenschaft und Technik in der Regel ganz verschiedene persönliche Gründe für ihren Entschluss, der Welt zu entsagen und sich Aum anzuschließen. Gemeinsam war ihnen jedoch der Wunsch, ihre Fachkenntnisse und Fähigkeiten in den Dienst eines höheren Ziels zu stellen, da sie begründete Zweifel an der unmenschlichen, utilitaristischen Tretmühle des Gesellschaftssystems hatten, dem sie angehörten und an das sie ihre Fähigkeiten und Bemühungen nicht länger verschwenden wollten; denn damit hätten sie den Sinn ihrer Existenz verfehlt.
    Ikuo Hayashi, durch dessen Beteiligung am Sarin-Anschlag zwei U-Bahn-Beamte ums Leben kamen, gehört eindeutig zu diesem Typus. Er galt als ein ausgezeichneter Chirurg, der sich leidenschaftlich für seine Patienten engagierte. Vielleicht entwickelte er gerade darum ein tiefes Misstrauen gegen unser widersprüchliches, mangelhaftes Gesundheitssystem und fühlte sich so stark von der aktiv spirituellen Welt Aum Shinrikyos hingezogen, die ihm eine überwältigende, vollkommene Utopie anbot.
    In seinem Buch »Aum und ich« beschreibt er seine damaligen Vorstellungen:
    »In seiner Predigt schilderte Asahara uns das ›Shambala-Programm‹. Dazu gehörte der Bau des ›Lotus Village‹, in dem es ein Astral-Krankenhaus und eine Shinri-Schule geben sollte, die eine gründliche Ausbildung gewährleisten würde. […] Die medizinische Behandlung sollte nach einer Astral-Medizin erfolgen,
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