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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Nomonhan abgespielt hatten. In der Realität hat sich jedoch an dieser Einstellung fast nichts geändert; das Muster wirkt auch im heutigen Japan fort. Der Alptraum geht weiter.
    Am Ende wurden die Ursachen der Niederlage von Nomonhan vom Japanischen Oberkommando niemals untersucht (natürlich gab es einen manipulierten Bericht darüber), sodass für die Zukunft absolut nichts daraus gelernt wurde. Einige wenige Offiziere der Kwantung-Armee wurden ausgetauscht, und alle Informationen über die Kämpfe an der fernen Front blieben unter Verschluss. Zwei Jahre später trat Japan in den Zweiten Weltkrieg ein. Und die Grausamkeiten und die Tragödie von Nomonhan wiederholten sich in einem noch gewaltigeren Ausmaß.
    7  Untergrund
    Ich habe noch ein weiteres persönliches Motiv, mich für den Sarin-Anschlag in Tokyo zu interessieren: Er fand unterirdisch statt. Unterirdische Welten wie Brunnen, Gänge, Höhlen, unterirdische Flussläufe und Kanäle, U-Bahnen und dergleichen mehr haben mich als Schriftsteller und als Individuum schon immer stark fasziniert. Die Idee einer verborgenen Passage – allein schon die Vorstellung beflügelt meine Phantasie und lässt in mir Geschichten entstehen.
    In meinen beiden Romanen Hardboiled Wonderland oder das Ende der Welt und Mr. Aufziehvogel spielen unterirdische Schauplätze eine besonders wichtige Rolle. Die Helden steigen auf der Suche nach etwas Bestimmtem in unterirdische Welten hinab und erleben dort allerlei Abenteuer. Natürlich tauchen sie in zweifacher Hinsicht in diese Unterwelten ein: physisch und psychisch. In Hardboiled Wonderland lebt unter der Erde seit undenklichen Zeiten eine erfundene Spezies, die Schwärzlinge. Es sind grässliche Kreaturen ohne Augen, die sich von verwesendem Fleisch ernähren. Sie haben unter der Stadt Tokyo ein weit verzweigtes Netz von Gängen gegraben, die ihre Nester verbinden. Gewöhnliche Menschen ahnen nichts von ihrer Existenz. Der Held des Romans steigt in diese geheimnisvolle unterirdische Welt hinab und stößt auf die grausigen Spuren der Schwärzlinge. Er bahnt sich einen Weg durch die finstere Tiefe und gelangt an der U-Bahn-Station Aoyama-Itchome unversehrt wieder in die Oberwelt.
    Nachdem ich diesen Roman geschrieben hatte, bildete ich mir manchmal, wenn ich mit der U-Bahn fuhr, ein, ich sähe Schwärzlinge in der Dunkelheit. Ich stellte mir vor, sie würden einen Felsen auf die Schienen rollten, den Strom unterbrechen, die Fenster einschlagen, in die Wagen eindringen und uns Fahrgäste mit ihren messerscharfen Zähnen zerfetzen …
    Zugegeben, eine sehr kindliche Phantasie. Wie in einem billigen Horrorfilm. Dennoch hatte ich, wenn ich an der Tür stand, das Gefühl, wenn sich in der Dunkelheit im Glas die vorbeihuschenden Pfeiler spiegelten, die abscheulichen Schwärzlinge zu sehen.
    Als ich von dem Sarin-Anschlag in der U-Bahn erfuhr, fielen mir ganz unwillkürlich die Schwärzlinge ein. Einer persönlichen Angst – oder einem Wahn – zufolge bildete ich mir ein, es gäbe zwischen den von mir geschaffenen bösen Wesen und jenen finsteren Eindringlingen, die den Pendlern in der U-Bahn aufgelauert hatten, eine Verbindung. Diese Verbindung hat für mich eine große Bedeutung und war mein persönliches Motiv, das vorliegende Buch herauszugeben.
    Ich habe nicht die Absicht, die Angehörigen der Aum-Sekte als grässliche Ungeheuer zu bezeichnen, und dass ich in meinem Roman Hardboiled Wonderland die Schwärzlinge geschaffen habe, sagt höchstens etwas über meine Urängste aus. Vielleicht entspringen sie einem Urgrund unseres Bewusstseins, dem kollektiven Unterbewussten. Für mich bedeuten sie schlicht den Inbegriff der Gefahren, die stets im Dunkeln lauern und denen wir in Wirklichkeit nie begegnen. Dennoch drängen diese in tiefster Finsternis verborgenen »Monster« zeitweise nach oben und nehmen in unserem Bewusstsein Gestalt an.
    Normalerweise fliehen wir vor den Phänomenen des Dunkels und ziehen das Licht der Sonne vor. Aber bisweilen finden wir im Schutz der Dunkelheit Trost und Heilung. Auch das brauchen wir. Weiter aber wagen wir uns nicht voran; die verschlossene Tür, die ins tiefste Innere führt, dürfen wir unter keinen Umständen öffnen. Denn jenseits von ihr entfaltet sich die undurchdringlich finstere Geschichte der Schwärzlinge.
    Daher haben in meiner persönlichen Deutung (in meiner Geschichte) die fünf Täter der Aum-Sekte, die mit ihren Schirmspitzen jene mit Sarin gefüllten Plastikbeutel durchstießen,
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