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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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frisch. Viele von ihnen hatten von ihren Erlebnissen immer wieder berichtet. Einige hingegen hatten seither mit kaum jemandem über den Anschlag gesprochen, oder sie hatten gewisse Einzelheiten nie erzählt. Dennoch hatten alle die Ereignisse innerlich wieder und wieder durchdacht und sie auf diese Weise objektiviert. Daher waren die meisten Berichte sehr realistisch und plastisch, auch wenn sie Erinnerungen bleiben.
    Nach der Definition eines Psychoanalytikers sind die Erinnerungen eines Menschen nichts weiter als die »persönliche Deutung« spezifischer Ereignisse. Zum Beispiel lässt sich eine Erfahrung leichter verarbeiten, wenn sie durch den Gedächtnisapparat gefiltert wurde. Dabei werden unerwünschte Teile einfach ausgesondert. Die Reihenfolge des Geschehens kann vertauscht und Unstimmiges stimmig gemacht werden. Die eigenen Erinnerungen vermischen sich mit denen anderer und werden nötigenfalls ausgetauscht. All das geschieht ganz natürlich und unbewusst.
    Einfach ausgedrückt: die Erinnerung an unsere Erlebnisse wird in eine erzählerische Form gebracht. Bei diesem Prozess handelte es sich mehr oder weniger um eine natürliche Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins (die Schriftsteller bewusst und professionell nutzen). Auch wenn die Wirklichkeit des Erzählten etwas von der des Geschehens abweicht, ist die Geschichte deshalb nicht »gelogen«, sondern immer noch unverkennbar Wahrheit, wenn auch in anderer Form.
    Beim Sammeln meines Materials habe ich mich prinzipiell bemüht, die Aussagen jeder Person innerhalb des Kontexts ihrer Geschichte für wahr zu erachten; das ist noch immer meine Überzeugung. Obwohl die Geschichten von Personen, die gleichzeitig das Gleiche erlebt haben, häufig in Einzelheiten voneinander abweichen, werden sie hier mit allen Widersprüchen präsentiert. Zudem bin ich ohnehin der Ansicht, dass diese Abweichungen und Widersprüche selbst etwas besagen. In unserer facettenreichen Welt sagt das Unstimmige häufig mehr aus als das Stimmige.
    5  Was kann ich tun?
    Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, aus dem ich dieses Buch verfasst habe. Ich erhoffte mir ein tieferes Verständnis der japanischen Gesellschaft. Ich habe lange – sieben oder acht Jahre – außerhalb Japans gelebt. Nachdem ich Hardboiled Wonderland oder das Ende der Welt geschrieben hatte, habe ich Japan verlassen und bin nur sporadisch in Japan gewesen, bis ich Mr. Aufziehvogel abgeschlossen hatte. Ich betrachte diese Zeit – zunächst in Europa und dann in Amerika – als ein selbst gewähltes Exil.
    Als Schriftsteller wollte ich anderswo Erfahrungen sammeln und auf Japanisch Geschichten schreiben. Indem ich Japan verließ – das Land, das die Voraussetzung für mein Schreiben und meine ganze Person darstellt –, zwang ich mich, von Phase zu Phase neu zu erwägen, wie ich zur japanischen Sprache (und allem Japanischen) stand.
    Erst während der letzten beiden Jahre meines Exils entdeckte ich zu meinem Erstaunen etwas von dem, was ich über das Land Japan hatte wissen wollen. Die Zeit, die ich außerhalb Japans umhergezogen war, neigte sich dem Ende zu – zumindest wuchs in mir dieses Gefühl. Ich konnte an mir selbst eine Veränderung, einen Wertewandel beobachten. Vielleicht – offenkundig – war ich einfach nicht mehr jung und hatte wie von selbst ein Alter erreicht, in dem man eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber empfindet.
    Ich spürte, dass es an der Zeit war, nach Japan zurückzukehren. Zurückzukehren und nicht an einem Roman zu arbeiten, sondern an etwas, das mir erlaubte, tiefer in die Mentalität meines Landes einzudringen. Vielleicht konnte ich sogar eine neue Seinsweise und ganz neue Standpunkte für mich entdecken.
    Was also konnte ich tun, um Japan besser zu verstehen?
    Im Groben waren mir die Umrisse dessen, was ich suchte, klar. Ich wollte meine Blockade durch eine klare Abrechnung auf meinem emotionalen Abakus durchbrechen und mich danach mehr mit dem Land Japan und dem Bewusstseinszustand meiner Landsleute beschäftigen. Wer waren wir überhaupt? Und in welche Richtung gingen wir?
    Wie ich dieses Vorhaben aber konkret realisieren sollte, war mir unklar. Mein letztes Jahr im Ausland verbrachte ich in einem Zustand der Benommenheit. Damals wurde Japan von gleich zwei Katastrophen heimgesucht, die die ganze Welt erschütterten: das große Erdbeben in Kobe und der U-Bahn-Anschlag in Tokyo.
    Abschließend kann ich sagen, dass meine Auseinandersetzung mit dem Anschlag mich
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