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Die Schatten von Belfast

Die Schatten von Belfast

Titel: Die Schatten von Belfast
Autoren: Stuart Neville
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ZWÖLF
     
    Wenn er noch einen trank, würden sie ihn vielleicht in Ruhe lassen. Diese Lüge redete Gerry Fegan sich vor jedem neuen Schluck ein. Er verscheuchte den Whiskeybrand mit einem kräftigen Zug kühlen schwarzen Guinness und setzte das Glas zurück auf den Tisch. Wenn du jetzt hochsiehst, sind sie weg, dachte er.
    Nein, sie waren immer noch da und starrten ihn an. Insgesamt zwölf, wenn er den Säugling in den Armen seiner Mutter mitzählte.
    Er war inzwischen ordentlich abgefüllt. Wenn wirklich kein Tropfen mehr in seinen Magen passte, würde er sich vom Barmann Tom zur Tür bringen lassen, und die zwölf würden ihm durch die Straßen von Belfast folgen, in sein Haus hinein und die Treppe hinauf bis in sein Schlafzimmer. Falls er Glück hatte und besoffen genug war, kippte er vielleicht aus den Latschen, bevor ihre Schreie so laut wurden, dass man es nicht mehr aushielt. Es war der einzige Zeitpunkt, wo sie je einen Mucks von sich gaben - wenn er allein und kurz vorm Einschlafen war. Am schlimmsten war es, wenn das Baby anfing zu schreien.
    Fegan hob sein Glas, um Tom auf sich aufmerksam zu machen.
    »Hast du nicht schon genug, Gerry?«, fragte Tom. »Wird langsam Zeit, nach Hause zu gehen. Alle sind schon weg.«
    »Einen noch«, sagte Fegan und versuchte, nicht zu lallen. Er wusste, Tom würde ihm das nicht abschlagen. In West Belfast war Fegan immer noch ein respektierter Mann, trotz seiner Sauferei.
    Prompt seufzte Tom und setzte ein Glas an den Portionierer. Dann brachte er den Whiskey herüber und zählte das Kleingeld von der bekleckerten Tischplatte. Beim Weggehen saugte ein klebriger Film aus altem Bier und Schmutz an seinen Schuhsohlen.
    Fegan hob das Glas und prostete seinen zwölf Begleitern zu. Einer der fünf Soldaten unter ihnen nickte lächelnd zurück. Die anderen starrten ihn einfach nur an.
    »Ich scheiß auf euch«, sagte Fegan. »Ich scheiß auf euch alle.«
    Keiner der zwölf reagierte, nur Tom sah sich über die Schulter um. Dann ging er kopfschüttelnd weiter zur Bar.
    Einen nach dem anderen musterte Fegan seine Begleiter. Von den fünf Soldaten waren zwei Briten und zwei vom Ulster Defense Regiment. Ein anderer, der Fegan verfolgte, war Polizist und steckte in der adretten, gestärkten Uniform der Ulster Constables. Zwei weitere waren Loyalisten, beide von den Ulster Freedom Fighters. Die übrigen vier waren Zivilisten, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Er konnte sich noch an jeden Einzelnen erinnern, den er umgebracht hatte, aber es waren die Erinnerungen an die Zivilisten, die am lautesten gellten.
    Da war der Metzger mit dem runden Gesicht und der blutigen Schürze. Fegan hatte das Paket in seinem Geschäft deponiert und noch der Frau mit dem Baby die Tür aufgehalten, als sie den Kinderwagen hereinschob. Sie hatten sich angelächelt. Schon als er in den fahrenden Wagen gesprungen war, hatte Fegan die Hitzewelle der Explosion gespürt, einer Explosion, die eigentlich erst fünf Minuten später hätte erfolgen sollen, nachdem der Laden evakuiert worden war.
    Dann der Junge. Noch immer erinnerte Fegan sich an den Blick in seinen Augen, als er die Pistole gesehen hatte. Jetzt saß der Junge ihm am Tisch gegenüber und durchbohrte ihn mit ebendiesen Augen.
    Fegan konnte dem Blick nicht standhalten und schlug die Augen nieder. Auf dem Tisch bildete sich eine Lache aus Tränen. Fegan hob die Finger an die Augenhöhlen und merkte nun, dass er geweint hatte.
    »Mein Gott«, sagte er.
    Mit dem Ärmel wischte er die Tischplatte ab und unterdrückte schniefend weitere Tränen. Die abgestandene Luft des Pubs, klebrig wie das Graubraun der Wände, schnürte ihm die Kehle zu. Fegan schalt sich. Weder brauchte noch verdiente er Mitleid und Selbstmitleid erst recht nicht. Wenn selbst schwächere Männer als er selbst mit ihren Taten leben konnten, dann musste er das ja wohl auch schaffen.
    Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn hochschrecken.
    »Zeit zu gehen, Gerry«, sagte Michael McKenna.
    Tom verschwand im Vorratsraum hinter der Theke. McKenna bezahlte ihn dafür, dass er diskret war und weder etwas hörte noch sah.
    Fegan hatte gewusst, dass der Politiker kommen und nach ihm sehen würde. McKenna trug einen eleganten Anzug, die Brille mit dem zierlichen Gestell verlieh ihm das Aussehen eines gebildeten Mannes. Kein Vergleich mehr mit dem Teenager, mit dem sich Fegan vor dreißig Jahren auf der Straße herumgetrieben hatte. Der Wohlstand machte was
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