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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg
Autoren: Haruki Murakami
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Öffentlichkeit immer stärker als eine Art von Comic, ein bizarres Skandalverbrechen oder als der urbane Mythos einer Generation darzustellen scheint.
    Wenn wir aus diesem tragischen Ereignis etwas lernen wollen, müssen wir es immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Es mit einem Achselzucken und der Aussage »Aum ist eben schlecht« abzutun, wäre allzu einfach. Aber auch die Kritik an Begriffen wie »das Böse« oder »Wahnsinn« bringt uns nicht viel weiter. Unsere große Schwierigkeit und Aufgabe besteht darin, die Klischees und Phrasen der herrschenden Meinung zu durchbrechen.
    Was wir brauchen, sind neue Worte, entstanden aus neuen Gedanken, mit deren Hilfe wir eine neue Geschichte erzählen (und mit der alten Geschichte aufräumen) können.
    2  Warum habe ich weggesehen?
    Doch wo könnten wir die neuen Gedanken und Worte für eine neue Geschichte finden?
    Die bisherige Berichterstattung durch die Medien arbeitet durchgängig mit der Polarisierung von »wir«, das heißt »die unschuldigen Opfer und die Seite des Rechts«, und »sie«, sprich »die schuldigen Täter und das Unrecht«. Ohne eine gewisse Bereitschaft, diese Einteilung in »wir« und »die anderen« zu durchbrechen, werden wir im Morast unserer Vorurteile stecken bleiben oder – was noch schlimmer ist – in Gleichgültigkeit versinken.
    Ich habe dazu folgenden Gedanken: Um die Realität des Sarin-Anschlags wirklich zu begreifen, reicht eine rationale Untersuchung der Motive und Theorien seiner Urheber nicht aus. Ebenso unerlässlich ist eine parallele Auseinandersetzung mit »unseren« eigenen Motiven und Theorien. Könnte der Schlüssel zur Lösung des grausamen Rätsels, das »sie« uns aufgaben, eventuell sogar auf unserem Territorium vergraben sein?
    Wir werden nicht weit kommen, wenn wir das »Phänomen Aum« als etwas Unbegreifliches, fundamental Anderes, außerhalb unserer Gesellschaft Stehendes verdrängen, das man gerade noch mit einem Fernglas auf der anderen Seite eines Ozeans erkennen kann. Auch wenn uns der Gedanke unangenehm ist, werden wir nicht umhinkommen, »sie« in unser eigenes System zu integrieren. Weit größer noch als die Gefahr, den Schlüssel zu den Ereignissen nicht bei uns selbst zu suchen, erscheint mir die Versuchung, den Anschlag aus einer solchen Distanz zu betrachten, dass seine Bedeutung auf ein mikroskopisches, mit bloßem Auge nicht mehr erkennbares Ausmaß reduziert wird.
    Für Verdrängung und ausweichendes Verhalten gibt es natürlich immer einen bestimmten Grund. Ich selbst erinnere mich noch gut daran, dass Aum sich bei den Unterhauswahlen im Februar 1990 zur Wahl stellte. Asahara kandidierte für den Bezirk Shibuya, in dem ich damals wohnte, und seine Kampagne bestand aus einem ungewöhnlichen Spektakel. Tag für Tag fuhren kleine Lastwagen durch das Viertel, aus deren Lautsprechern eine sonderbare Musik ertönte, während weißgewandete junge Männer und Frauen in überdimensionalen Asahara-Masken und Elefantenköpfen winkend und tanzend die Straßen vor meiner U-Bahn-Station säumten.
    Damals war ich zum ersten Mal mit der Existenz von Aum konfrontiert und wandte mich beim Anblick ihrer Wahlpropaganda angewidert ab. Wenn ich etwas nicht sehen wollte, dann so etwas. Andere Passanten zeigten ähnliche Reaktionen und gingen eilig weiter, ohne die Aum-Anhänger zu beachten. Ich verspürte einen undefinierbaren Schauder, einen mir selbst nicht ganz erklärlichen Ekel, aber ich machte mir auch nicht die Mühe, darüber nachzudenken, woher dieser Abscheu kam oder warum das »das Letzte war, was ich sehen wollte«. Aum hatte nichts mit mir zu tun.
    80 bis 90 Prozent aller Leute würden wahrscheinlich das Gleiche tun – vorbeigehen, wegsehen, nicht weiter darüber nachdenken, vergessen. (Vermutlich haben die Intellektuellen der Weimarer Republik ganz ähnlich reagiert, als sie Hitler zum ersten Mal begegneten.)
    Im Nachhinein kommt mir meine instinktive, fast überzogene Abwehr dennoch seltsam vor. Im Grunde sind die Straßen doch voll von Anhängern so genannter neuer Religionen, die um Mitglieder werben. Gleichwohl empfinden wir (zumindest gilt das für mich) ihnen gegenüber keinen derartigen Abscheu. Wir nehmen sie zur Kenntnis und damit hat sich’s. Die Tamburin schlagenden, »Hare Krishna« singenden Jugendlichen mit den rasierten Köpfen sind doch wahrlich ein sonderbarer Anblick. Dennoch wende ich meine Blicke nicht angeekelt von ihnen ab. Warum tat ich es bei den Anhängern
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