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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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vom vorherigen Abend – lasst uns alle zusammen nach Salzburg fahren. Ich möchte einmal in meinem Leben etwas Verbotenes tun.
    Anja und ich starren sie wortlos an. Ich meine, erklärt Lotte, ich will mir eine Fahrkarte kaufen, aber sie nicht vorzeigen. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, nicht zu gehorchen.

Fünfundzwanzig
    Kurz vor Bad Reichenhall hat sich der Schaffner durch den voll besetzten Zug endlich in unser Abteil vorgearbeitet. Ein erster war kurz nach unserer Abfahrt durch die Wagen geeilt, ohne zu kontrollieren, hat dafür aber mit sehr offiziösem Gebaren an allen Gerätschaften herumhantiert, die an seinem schweren Gürtel befestigt waren. Offenbar gab es eine Panne.
    Alle hatten ihre Teilnahme an der überraschenden Reise zugesagt, Franz und Nina verwundert – Salzburg? Morgen? Lotte? –, aber nachdem ich Nina versprach, dass sie ihre Tochter selbstverständlich mitbringen könne, hat sie in ihrer burschikosen Art gesagt: Ist ja wie in der Oper, beim Finale, wenn alle sich noch einmal versammeln. Und gewiss nichts Besonderes damit gemeint.
    Jetzt sitzt Rahel, die Fünfjährige, deren Erscheinen von allen mit Interesse und Wohlwollen gewürdigt wurde, nach anfänglicher Scheu zwischen Anja und Parwiz, lässt ihre mosaikbunten Nina-Augen prüfend über die ihr unbekannte Reisegesellschaft schweifen und nagt an ihrer Unterlippe, als wolle sie ein vorerst nicht allzu günstig ausgefallenes Ergebnis nochmals überdenken. Durch den Gang getrennt Franz und Nina, in einer Vierergruppe Lotte, Heinrich, der Rollator und ich. Beim Anblick des Paars mit dem Kind verspüre ich im Rachen oder in der Luftröhre ein Brennen, wie übersäuert, dann ein Anspannen des Zwerchfells, als müsste es mit einem Schlag rechnen. Es geht vorüber.
    Lotte spricht kein Wort, sie sitzt am Fensterplatz, Heinrich gegenüber, und schaut beharrlich in die vorbeiziehende Landschaft, als müsse sie sich mit ihr verbünden oder verhindern, dass die Bilder abreißen – womöglich in dem Moment, in dem der Schaffner kommt. Ich sehe ihre Aufregung an den Händen, die sie im Schoß dreht wie bei einer großen Entscheidung.
    Hier noch jemand zugestiegen?
    Lotte fährt zusammen, ich lege kurz meine Hand auf ihren Arm, die sie sofort abschüttelt: Um keinen Preis darf deutlich werden, dass wir zusammengehören.
    Drei, vier Mal stellte der Schaffner im vorderen Wagenbereich die Frage nach den Zugestiegenen. Dann ist er unmittelbar hinter unseren Sitzplätzen. Es ist erstaunlich, dass im 21. Jahrhundert eine reine Geschäftssache bei der Bundesbahn noch als Vertrauensfrage behandelt wird: Wer auf besagte Frage nicht reagiert oder kopfschüttelnd verneint, wird nicht kontrolliert – nie habe ich es anders erlebt.
    Der Schaffner scherzt mit Rahel, wechselt zwei Worte mit Nina, erreicht mich.
    Ich hebe mein Gesicht zu ihm, reiche die Fahrkarte, lächle. Der Schaffner schaut irgendwie fragend oder auffordernd auf die zum Fenster gewandte Lotte. In der Zwischenzeit hat sie ihren Kopf an die Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen. Die goldenen Hufeisen in den mürben Ohrläppchen schaukeln in der Fahrbewegung. Ich lege meinen Finger auf die Lippen. Die Dame schläft, lassen wir sie schlafen, der Schaffner nickt, wirft einen jovialen Blick auf Heinrich, der seine Karte wieder entgegennimmt und gleichfalls verständnisvoll nickt: Die Dame schläft und wurde längst kontrolliert.
    Hier noch jemand zugestiegen?
Die Stimme verliert sich im nächsten Wagen, Ansagen folgen. Bad Reichenhall: Ein- und Aussteigende. Wir fahren wieder.
    Und da schlägt Lotte die Augen auf, nimmt Heinrich in den Blick, in einen funkelnden Blick, muss man sagen, denn in ihm zeichnet sich ein solch triumphales Frohlocken, ein solch ungläubiger Jubel ab, dass das gar nicht innerlich bleiben kann, sondern sich nach außen wenden muss. Lotte öffnet ihre ineinander verschränkten Hände und gibt den völlig verknitterten Fahrschein frei. Für den Fall der Schwäche ist er greifbar geblieben, aber sie hat sich keine Schwäche erlaubt. Wir wechseln untereinander einen Verschwörerblick, drücken Lottes Hände und schweigen. Niemand außer Heinrich und mir hat von Lottes später Partisanenaktion Kenntnis gehabt.
    Salzburg empfängt uns im üppigen Licht eines milden Herbsttages, Lotte verlangt, sofort in eines der Kaffeehäuser zu gehen, und macht sich damit bei Rahel sehr beliebt. Danach? Danach schlendern wir herum, ziellos, lustvoll, von den Touristenströmen wie
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