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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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festgebunden. An beiden Armen Blutergüsse, schwärzlich-violett, ein schauriges Farbenspiel aus allen Höllenfarben. Sie ist bei Bewusstsein, aber nicht bei uns. Als Heinrich sich über sie beugt, versucht sie sein Gesicht mit der Hand zu erreichen, die Bewegung ist so zweideutig, zögernd und zornig zugleich, dass es unentscheidbar ist, ob sie zum Schlag ausholt oder zu einer Liebkosung. Die Krankenschwestern, die wir aufgebracht befragen, sagen: Getobt hat sie, so getobt, dass wir sie zu ihrer eigenen Sicherheit ruhigstellen mussten.
    Wir stehen an ihrer Bettseite, immer wieder tritt sie die Decke weg, mit der ich versuche, ihre eiskalten Füße zu wärmen. Sie knirscht mit den Zähnen, fletscht das Gebiss mit geballtem Grimm gegen denjenigen, der sie mundtot machen will. Und dann bringt sie das Wort unter furchtbarem Grimassieren heraus:
Mutti!
    Der Paravent, den die Schwestern um die Sterbende herum errichtet haben, schützt vor nichts. Und mir bleibt nichts, als Lottes unsinnigen, kindlichen und gehörigen Protest aufzunehmen:
Mutti
.
    Es ist ihr in den wenigen Stunden unserer Trennung heimtückisch ein Bärtchen gekeimt, schwärzer und dichter als dasjenige, das ich ihr noch vor wenigen Tagen entfernt habe. Borstig steht es über ihrer Oberlippe und gibt ihr einen bösen, wilden Anstrich. Die gefletschten Zähne sind grau belegt, die Augenbrauen finster zusammengezogen, die Hände zu Fäusten geballt. Lotte stirbt nicht in Frieden, nicht mit sich und nicht mit der Welt, Lotte stirbt unter größter Gegenwehr, Lotte stirbt als das erschrocken-unerschrockene Kind, das auf die Bäume geklettert ist, während die bezopften Schwestern strickten oder nähten, und das als junges Mädchen als Einzige die Briefe mit den schlechten Nachrichten von der Front vorzulesen imstande gewesen war.
    Nur noch ganz schwach pulst die Halsschlagader, als zuletzt, zwei Atemzüge lang, Lottes Gesicht weich wird, die Lippen sich schließen, Arme und Beine still liegen. Ihr Blick unerreichbar.

Siebenundzwanzig
    Wie schon einmal reise ich mit einer Urne, und die Reise geht, auch dies nicht zum ersten Mal, nach Schwarzort. Dorthin, wo ich vor Jahren hinter den schützenden Dünen der Kurischen Nehrung die Asche meiner Mutter dem Meer überantwortete, als letztes Gespräch.
    Heinrich ist bei mir. Wir wohnen in derselben Dachstube, die mich damals aufnahm, wir schauen auf dieselben Apfel- und Pflaumenbäume, auf denen die letzten übertragenen Früchte einen halb sonnigen, halb fauligen Duft verströmen, der bis in die morschen Balken der Mansarde dringt. Nachts kann das Licht der dottergelben, sowjetischen Straßenlaternen, die uns gleich wie mehrere Monde bescheinen, nichts ausrichten gegen das eigentliche Heimleuchten, das wir drinnen unter der Dachschräge einander bereiten.
    Ich habe mich so oft geirrt, sage ich zu Heinrich, der neben mir liegt, sein schönes, lebenskluges Gesicht mit dem dreifarbigen Bart mir zugewandt.
    Dadurch hast du die halbe Welt gesehen, erwidert er.
    Jetzt liege ich richtig, denke ich. Zum Aussprechen kommt es nicht mehr, der Schlaf oder die Trägheit, die ihm vorausgeht, lassen den Satz einfach in der Luft hängen.
    Am nächsten Morgen haben wir Lottes Asche in den Wind gestreut, besser gesagt, einen Teil ihrer Asche. Den Teil, den Parwiz und Anja in einem listig eingefädelten Coup kurz vor der Trauerfeier haben entwenden können. Franz und Nina hatten die Urnenträger, die das Gefäß vor einem großen Foto Lottes abgestellt hatten, in ein kurzes Gespräch verwickelt, und die Freundin Lottes, zu deren Haus ich sie bei unserer ersten Begegnung begleitet hatte, stand mit Heinrich am Eingang der Kapelle und ließ sich mit einem großen Taschentuch aus seinem Besitz, das ihr die Sicht vollständig verdeckte, trösten. Damit sind alle Trauergäste bereits aufgezählt, die Nachbarin, Lottes Kehrseite und Quälgeist, hat sich ihrer schlimmen Hüfte wegen (
kein Wunder, bei dem Gewicht! Da würde mein Hüftgelenk auch streiken!
, höre ich Lottes Stimme) entschuldigt. Genaugenommen sind wir also nicht mit der Urne gereist, sondern mit einem verschraubbaren Gefäß, das von den Kindern mit Geschenkpapier überklebt wurde, damit Lotte nicht nackt sei.
    Auf die höchste Düne sind wir zum Verstreuen gestiegen, der Wind, ja, er wehte, kräftig und komplizenhaft einverstanden. Im Handumdrehen wurden die Ascheflöckchen unsichtbar, waren übergegangen ins Eigentum der Luft. Wir standen und dachten an Lotte, an die
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