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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Autoren: Sigrid Lenz
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Weihnacht im Camp
    Marvin saß auf seiner Pritsche, die Beine angezogen, die Hände vor den Knien verschränkt. Sein Kopf lehnte rückwärts gegen die Wand, seine Augen starrten auf das stabile Drahtgeflecht, das die Matratze über seinem Schlafplatz an ihrem Ort hielt. Die Gedanken traten ihre Wanderung an, verirrten sich, stockten immer wieder an der gleichen Stelle, bevor sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrten.
    Das Training war hart, unerträglich fast, und dauerte bereits viel zu lang. Marvin konnte kaum fassen, dass er die Hälfte bereits überstanden hatte. Doch noch viel weniger konnte er fassen, erst jetzt erkannt zu haben, dass er die lange Zeit niemals ohne diesen einen Menschen überstanden hatte. Und am meisten wunderte ihn die Festigkeit der Überzeugung, mit der er diese Tatsache als gegeben ansah. Ohne Ian hätte er längst aufgegeben. Ohne Ian hielt ihn nichts in diesem schäbigen Camp, dieser öden Umgebung. Ohne Ian fiele es ihm nicht ein, auch nur in Erwägung zu ziehen, die unzumutbaren Befehle und Aufgaben, die sich die Schleifer aus den Fingern sogen, zu befolgen.
    Was für einen Sinn sollte es auch haben, sich Menschen zu unterwerfen, die lediglich aufgrund ihrer Uniformen und ihrer Dienstjahre glaubten, sich alles herausnehmen zu können.
    Wenn er das wollte, dann wäre er auf der Straße geblieben. Wenn er sich aufzugeben wünschte, dann bekäme er dort ausreichend Gelegenheit. Doch jedes Mal, wenn ihn das Bedürfnis überkam, alles hinter sich zu lassen, wenn er den Drang in sich spürte, davon zu laufen, so wie er damals aus seinem Elternhaus davongelaufen war, dann tauchte Ians Bild in seiner Vorstellung auf. Dann sah er Ian vor sich, so wie er ihm das erste Mal begegnet war, an ihrem ersten Tag. Er sah dessen dunkle Augen, das schwarze Haar, mit Wasser glatt an den Kopf gekämmt. Den warmen, kräftigen Haut-Ton, der irgendwo zwischen Bronze und Kupfer schwankte. Den aufrechten Wuchs, die schlanke Gestalt, die ihn, wie Marvin selbst aus der Entfernung erkannt hatte, um mindestens einen Kopf überragte.
    Erst viel später, als sie sich besser kannten, erfuhr er, dass Ians Vorfahren aus Südostasien stammten, dass darin der Grund für sein exotisches Aussehen lag. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass irgendwo in dem Mix seiner Ahnen sich ein Cherokee tummelte. Vielleicht verlieh ihm die Unklarheit seiner Herkunft den Zauber, das Unwiderstehliche, dem Marvin sich nicht entziehen konnte.
    So jemandem wie Ian war er nie zuvor begegnet. Ruhig, fast einsilbig, und doch klarer in seinen ausgewählten Aussagen, als jeder andere es zu sein vermochte, der redenschwingend versuchte, sich aus der Menge hervorzuheben. Wenn Ian sprach, dann hörte man ihm zu. Wenn er einen Entschluss fasste, dann hatte dieser Hand und Fuß. Es kam Marvin beinahe so vor, als wüsste Ian immer genau, was er zu tun hatte, als führte eine unsichtbare Macht den Dunkelhaarigen durch dessen Leben.
    Eine Macht, die in Marvins Leben fehlte, die für ihn nicht existierte. Die er vielleicht aber auch einfach nicht erkannte. Die sich unter all dem anderen Müll, den Unsicherheiten und Seelenqualen verbarg, die er Tag für Tag mit sich herumschleppte.
    Marvins Augen folgten den Linien über seinem Kopf, die sich, je länger er auf sie starrte, immer mehr verwirrten und verzerrten. Die Muster wanderten, verzogen sich und begannen vor ihm zu tanzen, bis er es nicht mehr aushielt und die Augen schloss.
    Ein Geräusch ließ ihn aus seinem Traum aufschrecken. Marvin blinzelte und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Abschnitt der Baracke, den er von seiner Position aus wahrnehmen konnte.
    Eine schlanke Gestalt hielt in ihrem Weg inne. Ian bückte sich, bis Marvin auch sein Gesicht erkennen konnte und sah den Blonden erstaunt an. „Was tust du noch hier?“, fragte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.
    Marvin wich Ians Blick aus. „Ich fahr nicht“, antwortete er kurz.
    „Okay?“ Ians Augenbrauen wanderten nach oben. „Ich dachte nur…“ Er verstummte.
    Marvin zögerte, doch entschlossen rutschte er vorwärts und schwang seine Beine über die Bettkante.
    „Was dachtest du?“, fragte er neugierig.
    Ian sah ihn wieder an, lächelte kurz. „Ich dachte, ich wäre der Einzige, der die Feiertage hier verbringt. Bis jetzt war ich es zumindest.“
    Jetzt war es an Marvin erstaunt auszusehen. „Du warst schon öfter über Weihnachten alleine?“
    Ian nickte und zuckte mit den Schultern. „Bin ich gewohnt. Weihnachten ist
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