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Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten

Titel: Die einzige Blume im Sumpf - Geschichten aus Ägypten
Autoren: Lenos Verlag
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Nûna, die Gestörte
    Abgesehen von ihrem Vater, ihren Geschwistern, dem Herrn Offizier, seiner Frau und seinem Sohn war Nûna bei der Befragung durch die Staatsanwaltschaft nur gerade vier Personen bekannt: Hassanain, dem Brotverkäufer, Fatîch, dem Krämer, dem Bügler Sâlim und dann noch dem Müllmann, der bei seiner Einvernahme feststellen musste, dass ihm ihre Gesichtszüge eigentlich völlig fremd waren; denn – so sagte er zumindest – er hatte allemal für nichts anderes Augen als für die Blechschale mit dem Abfall, die sie ihm jeden Morgen reichte, damit er sie in seinen Korb entleerte.
    Die Aussagen aller auf die Frage nach ihren Gesichtszügen variierten stark. Während der Herr Offizier nämlich versicherte, sie habe eine Stupsnase gehabt und ihr Oberkiefer habe etwas nach vorne gestanden, beantwortete seine Frau die Frage der Staatsanwaltschaft mit der Gegenfrage, ob sie überhaupt Gesichtszüge gehabt habe, und fügte dann hinzu: »Sie war ein sehr gestörtes Mädchen mit einem ausnehmend merkwürdigen Verhalten.« Ihr Vater dagegen beschränkte sich, während er sich die Tränen trocknete, auf die Aussage: »Sie war ein junges Mädchen, wie Jasmin; sie war anders als die Mädchen sonst.« Und um der Staatsgewalt gegenüber die Richtigkeit seiner Worte zu unterstreichen, holte er aus der Innentasche seiner Galabija einen kleinen goldenen Ohrring mit einer blauen Perle hervor. Es war dies die gesamte Brautgabe von dem Bräutigam, den sie nie gesehen hatte.
    Auch Nûna selbst wusste nichts Genaues über ihre Gesichtszüge. Besser wusste sie da schon, dass der Sohn des Herrn Offizier schönes schwarzes Haar hatte, wie seine Mutter, und eine enorme Nase, die derjenigen seines Vaters glich, nur dass auf der Nase des letzteren kleine schwarze Pünktchen verstreut waren, die sie mehrfach bemerkte – immer dann, wenn er ganz aufgeregt daran herumdrückte und mit gepresster und vor Lachen würgender Stimme seinem Schachpartner »Schach« zurief.
    Jedenfalls zeigte das Mädchen Nûna kein allzu grosses Interesse an der Frage nach ihrem Äusseren, das sie häufig in irgendwelchen Spiegeln sah – sei es im Schlafzimmer des Herrn Offizier und seiner Frau, sei es im Zimmer des Jungen, ihres Sohnes, beides Zimmer, die sie zum Saubermachen und Aufräumen betrat, was immer sehr rasch und ohne allzu grossen Zeitaufwand gehen musste, damit sie nicht die Schulstunden verpasste. Aber dann stahl sie sich doch immer wieder einige Augenblicke, um noch einmal nach der »Iris« zu suchen, an deren Existenz sie, trotz der wiederholten, nachdrücklichen Versicherung der Lehrerin, nie ganz glaubte. Und wie jedesmal stellte sie sich auf die Zehenspitzen, reckte sich, klein wie sie war, um möglichst nahe an den Spiegel heranzukommen, und zog dann mit den Fingerspitzen – ihren geschwollenen Fingerspitzen, die nie ohne Brandspuren und kleine Wunden waren – an ihren unteren Lidern, wodurch, zwei schwarzen Kreisen gleich, ihre Pupillen hervortraten, in denen sie nach Blüten oder Fruchtkolben, nach Stengeln oder Blättern oder irgend etwas forschte, das eine Iris sein könnte. Wenn sie es leid war und müde wurde und spürte, wie ihre Zehen in dieser Stellungzu schmerzen begannen, sank sie auf den ganzen Fuss zurück, presste wütend die Lippen zusammen und blies die Backen auf oder streckte die Zunge in die Luft hinaus und drehte sich mehrmals hintereinander im Kreis, nur um sich danach rasch ans Aufräumen zu machen – die Kleider der Familie mussten aufgehängt, alle Dinge an ihren Platz gestellt werden.
    Ganz unbestreitbar hegte das Mädchen Nûna den geheimen Wunsch, hübsch und attraktiv zu sein. Nicht wie die Frau des Herrn Offizier, die Kleider in jeder Form und jeder Farbe besass, kurze und lange, ärmellose und langärmlige, nein, eher so hübsch wie die Lehrerin, die sie sich als bildschöne Frau vorstellte, jedesmal wenn sie, am Küchenfenster stehend, ihre angenehme Stimme vernahm, die die Mädchen aufforderte, ihr »ei-ner Ga-zel-le Flan-ken, und Bei-ne wie ein Strauss« 1 nachzusprechen.
    Das Wort »Flanken« war für Nûna ein echtes Rätsel, und wenn sie begann, es gemeinsam mit den Mädchen nachzusprechen, und dem Rhythmus ihrer scharfen Solostimme lauschte, die »ei-ner Gazel-le Flan-ken« zeichnete, hielt sie beim Reiben des Tellers, den sie gerade in der Abwaschschüssel spülte, oder beim Rühren des Essens, das im Topf auf dem Feuer stand, ein wenig inne. Dann legte sie ihr rechtes Bein locker
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