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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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Dürftigkeit, die alles Persönliche durchdrang, also auch mich, durch und durch. Kein Schicksal, kein Aufstand, kein Gegner und keine Heldentat – einen Nicki, einen Parka, ein Paar
Clarks
, einen VW, ein Haus und einen Gutverdiener zu haben, waren, ab der Adoleszenz in den Siebzigern, die kühnsten Utopien. Die zehn bis zwanzig Jahre Älteren, in den letzten Kriegsjahren oder kurz danach Geborenen, lebten dagegen auf einem anderen Planeten, einem ebenso verwerflichen, aber immerhin geschichtlichen, sie hatten Eltern, auch wenn sie die nicht wollten. Meine Generation besteht aus Waisenkindern, Geschichtswaisen, die den Abbruch der Erinnerung überlebt haben; genau genommen handelt es sich bei uns also um Überlebende eines misslungenen
Abortus
.
    Ganz schön altklug, sagt Nina, als ich ihr das ungefähr so vortrage.
    Das sind Frühgeburten nun einmal.
    Ich wiederhole mein Sätzchen von den Steinen, die nach der Geburt die Mutter vertraten und später für solides Sprechen sorgten. Nur Felsenfestes garantiert eine verlässliche Statik.
    Nina lacht, das ist doch nicht dein Ernst, Mensch, Minna, Schätzchen, wie du sitzt, alle Haltungsfehler in Reinform: Straffe dich! Kreuz gerade, Brustbein strecken! Aber die Sprüche lass sein, da kannst du dir weniger Straffheit leisten.
    Und dann spricht sie erhitzt und übergangslos über das Frevlerische der allwaltenden Ökonomie, über die Entstellungen, die Verrenkungen, die Schäden, die das in jedem hinterlässt. Und denen, ruft sie aus, kann man nicht einmal entkommen! Weil sie sich als Erfolg verkleiden!
    Nach dem Neidgefühl auf ihre DDR-Kindheit beschleicht mich jetzt eines, das mit ihrer Bestimmtheit zu tun hat: Sie weiß, wofür und wogegen sie ist. Sie ist ein politischer Kopf, und deswegen kennt sie und benennt sie Gegner. Ich dagegen belege immer die Anfängerkurse. Und denke länger über einen Sonnenuntergang nach – wo bleibt sie, die Sonne, wenn ich sie im Meer versinken sehe wie eine Kupfermünze? – als über die Finanzmärkte. Von morgens bis abends müsste ich beschämt sein über die eigenen Unwissenheiten – tatsächlich, das Wort gehört in die Mehrzahl. Ich weiß nicht, wie mein Handy funktioniert, was genau Dendriten sind und Hedgefonds, wie Seefahrer landfest werden und Erdangezogene fliegen lernen, warum die Mordlust uns befällt, warum Heinrich mich liebt.
    Hörst du mir überhaupt zu? Nina schaut mich fragend an, erneut leichte Missbilligung in der Stimme. Dann fährt sie fort, reiht Gewissheit an Gewissheit.
    Wenn ich Thomas Mann wäre, müsste ich jetzt wohl sagen, dass Ninas Empörung sie aufs Schönste putzt: Vor Eifer bilden sich in ihren Wangen Grübchen, die Lippen, die derselben Epoche wie die Hände entstammen, also der Gotik, spitzen sich gefährlich zu und geben der Verachtung, die dem Gesprächsgegenstand gilt, einen nachdrücklichen, feuchten Stempel. Das Haar glänzt und stiebt zu den Seiten, gleichermaßen vom Furor aufgeladen wie von den unruhigen Fingern durchstöbert – ein Haareraufen vom Feinsten; es hat Klasse, und doch bleibt es eine echte Geste des Zorns.
    Was magst du an Franz?
    Nina hält erstaunt inne, lässt die Hände sinken, als seien sie plötzlich ohne Kommando. Gerade hat sie ausgeführt, inwiefern nicht nur die jetzige junge, sondern auch schon meine und dann ihre Generation
rebels without cause
seien. Dann sagt sie, bereits in die ersten Takte des wiedergekehrten und mit frischem Halstuch versehenen Cat-Stevens-Double-Gesangs hinein: seine Unbekümmertheit. Und wie er mit meinem Kind umgeht.
    Es wird erneut dunkel im Zuschauerraum, etwas Stoffliches legt sich beschwichtigend über alle Unterschiede und Verwerfungen, der wiedergeborene Cat Stevens besingt mit seiner schwirrenden, friedenssatten, irgendwie weiblichen Stimme die Liebe, nicht viel anders als ein Priester, der bei Brot und Wein den Leib und das Blut Christi beschwört. Wir lassen uns alle darauf ein, selbst diejenigen – die meisten –, die noch nie etwas von Transsubstantiation gehört haben oder haben wissen wollen. Ich liebe dieses Wort, wie auch alle weiteren seiner schwierigen Schwestern und Brüder. Schöne Währung, lateingebürgt, münzschwer. Als verhinderte Katholikin bin ich dafür anfällig, solche Worte liegen wie Hostien auf meiner Zunge. Das Schwierige darf sich schwierig zeigen. Und es scheint mir in diesem
Moonshadow
-Moment absolut vertretbar, dass außer der Liebe nichts zählt, nichts gilt und nichts bindet. Schon morgen werde
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