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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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Erforschung der Gründe dafür zu verzichten. Es erweist sich nun doch als anhaltende Wohltat, das Bad; denn auf dem Beifahrersitz, neben der energisch schaltenden und kuppelnden Nina, die redet, als ob sie den ganzen Tag bis zu diesem Moment geschwiegen hätte, verschwimme ich noch immer in halber Auflösung. Selbst meine Sicht ist wie beschlagen, die Landschaft passt sich an und wird herrlich ungenau.
    Als wir in dem Nestchen namens Berganger ankommen, schüttet es, ein böiger Wind treibt den Regen, der sich wie ein Film über unsere sorgfältig geschminkten Gesichter legt. Unter der mottenzerfressenen Kastanie des Kirchplatzes parken wir, Ninas Auto ist einer dieser kurzen, stupsnasigen Kleinwagen, die fast in jede Parklücke passen.
    Es ist ein altes Wirtshaus, Holzwurmbahnen in den Balken, der Theaterraum ist eng bestuhlt, die Bühne winzig. Nina und ich lümmeln uns an die Theke im Seitenflügel und bestellen Wein, unsere Mäntel liegen in der ersten Reihe nebeneinander.
    Bist du mit jemand zusammen?, fragt Nina und hebt ihr Glas. Wir stoßen an.
    Ziemlich, antworte ich.
    Dann geht es los.
    Das Cat-Stevens-Double ist äußerlich eine große Enttäuschung, kaum Haare, untersetzte Gestalt und ein biederes Hemd, kein zypriotisch-britischer Verführerschmelz, kein schwarz-gelockter Bart, der dem Original das Aussehen eines Propheten verlieh. Aber als er zu singen beginnt, sind Nina und ich verblüfft: Eine vollständige Anverwandlung. Ich schließe die Augen. Und öffne sie erst wieder, als Nina mich anstößt und sagt: Komm, lass uns tanzen.
    Oh, baby, baby it’s a wild world. Take good care, hope you have a lot of nice things to wear

    Wir schieben uns zwischen anderen Paaren hindurch, die erste Stuhlreihe wird von den Tanzenden immer weiter nach hinten gerückt.
My Lady D’Arbanville, why do you breathe so low?
Nina lehnt ihren Kopf an meine Schulter, ich höre sie mitsingen, im milden Halbdunkel des Zuschauerraums drehen wir uns langsam und zögernd, beide benommen von der überraschenden Entscheidung. Benommen aber auch, weil der Bilderansturm, der sofort innerlich einsetzt, umgehend das Gleichgewicht gefährdet. Eigentlich halten wir uns in einer Art Tanzpantomime aneinander fest, ich fühle mich schlagartig um fünfundzwanzig Jahre verjüngt:
    Marburg an der Lahn – die Lahn musste es wohl bleiben – ein Kellerraum im Haus der Wohngemeinschaft des lustigsten Kommilitonen unter den ernsthaften Studenten der verschiedenen
-istiken
(Germa-, Roma-, Angl-, Slav-), Studenten, die tagsüber mit gerunzelter Stirn über Psycholinguistik diskutierten und am Abend in den Küchen mit der Antonio-Gramsci-Gesamtausgabe auf dem schmalen Regalbrett über dem Herd Chili con Carne fabrizierten, mit Mienen, als bereiteten sie damit dem nächsten Umsturz die Grundlagen. Den gerade vergangenen, in seinen Ausläufern immer noch spürbaren, hatten wir knapp verpasst. Obwohl ich früh dran war, gehöre ich einer Generation von Verspäteten an. Unsere Entdeckung war die Traurigkeit, die Traurigkeit der Unbehelligten, die Mattheit der Unberufenen. Wir trugen höchstens die Kleider der Umstürzler auf, historische Kostüme, in denen man sich immerhin freier bewegte als in den ehemals eigenen. Wir ernährten uns von Zitaten – ohne viel Hoffnung auf eigene Urheberschaft.
    Die Autokennzeichen waren exotisch: WST, DT, VER. Niemand fuhr am Wochenende nach Hause. Sebastian hieß der Kommilitone mit den roten Haaren, Marianne seine gleichfalls rothaarige Freundin, beide kamen aus Lemgo und liehen sich gegenseitig großzügig an andere aus. Im schummrigen Licht stolperte man beim Tanzen leicht über die Matratzen, die an den Wänden entlang ausgelegt waren, und blieb, wenn man fiel, einfach paarweise liegen. Keine Orgien mehr, nein, eher eine kleinlaute Feier des Schwungs, der sich aus Auf- und Ausbrüchen ergibt, selbst aus den unspektakulären, die mit einem vollgeladenen VW-Bus beginnen, zu dessen Fracht auch der alte Teddybär zählt und der aufgehobene Milchzahn.
    Oh, baby, baby it’s a wild world
.
    Ninas Hände liegen auf meinen Hüften, meine auf ihren Schultern, sie dirigiert mich nachdrücklich um die anderen Paare herum und murmelt auf Höhe meines Brustbeins immer wieder wie verrückt, wie bizarr, wie vergangen das alles sei.
    Yes, I’ve been followed by a moonshadow, moonshadow, moonshadow. And if I ever loose my mouth, and all my teeth north and south, I won’t have to talk no more
.
    Meine Lieblingsstrophe. Ich
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