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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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SCHWARZARBEIT: EIN MÄRCHEN
Eins
    Ab ovo
: Frühgeburt. 1955, ein kleiner Ort am Rhein. Anstelle der Mutterbrust Rheinkiesel. Die Steine werden mit Rotlicht bestrahlt und sollen wärmen, ein Inkubator wie aus Vorkriegszeiten. Zwei Monate lang – bis zum Geburtstag unseren Herrn, dem 24. Dezember, an dem ich eigentlich hätte zur Welt kommen sollen, folglich gezeugt während des gutgelaunten rheinischen Karnevals – werden darin anderthalb Kilo zur Reife gebrütet. Der Schauplatz meiner Geburt war ein zweigeschossiges, graustichiges Gebäude, es wurde von Nonnen geführt. Ich sehe sie vor mir, wie sie in ihren fledermausigen Gewändern durch Gänge und Säle huschen; vor dem Frühgeborenen, das eher einem Grottenmolch ähnlich sieht als einem Menschen, bekreuzigen sie sich flüchtig. Der Herr hat’s gegeben, wenn er es wieder nimmt – kein Schaden. Korrektur: höhere Gewalt. Besser als niedere. Auf ihren Wangen ein rötliches Geflecht aus geplatzten Äderchen; zu oft besagten Herrn gelobt.
    Ich stelle mir vor, wie das Frühgeborene hohe, fiepende Laute ausstößt, ähnlich dem Pfeifen der Murmeltiere, vermutlich in der falschen Frequenz, die guten Geister dieses Krankenhauses empfangen sie nicht. Das Krankenhaus, ein ausrangiertes Kloster, liegt in den Flussniederungen, aus denen es immer ein wenig verkommen riecht. Wie bald darauf die ganze Kindheit nach etwas Liegengebliebenem, Vermodertem oder vielleicht auch nur nach nasser Wolle riecht.
    Die Nonnen tragen Schuhe mit klobigen Absätzen, ihre Ankunft ist nicht zu überhören und doch jedes Mal ein Schreck: Sie könnten gekommen sein, um sich abzuwenden. Grausamkeit hat noch keinem geschadet. Die hohe Schule der Resilienz:
Steh auf Menschchen!
Für den Übertritt an diese Schule braucht man einen guten Schnitt in schlechten Erfahrungen. Das Rotlicht gehört dabei zu den besseren der schlechten Erfahrungen; immer wenn irgendeines Liebhabers Wohnung – oder eine anderweitig zufällig betretene – im Badezimmer einen Heizstrahler aufwies, kam die Erinnerung daran zurück. Nein, Erinnerung kann man das nicht nennen, eher ein archaisches Gefühl, einen phylogenetischen Rest (ich lese nicht nur die Bibel, sondern auch
Scientific American
), der mit der eigentümlichen Wärme der rot glühenden Röhren aktiviert wurde.
    Da lag ich also damals brach, eine kleine Witzfigur. Mit Lungenentzündung. Ohne Haare. Hätte es ein Wettbüro gegeben mit Einsätzen auf eine Zukunft des Wurms, die Optimisten hätten viel Geld daran verdient, denn das Überleben war höchst unwahrscheinlich. Vermutlich habe ich bereits damals gelernt, dass es helfen kann, sich totzustellen.
    Ich bin nicht undankbar, dass die Möglichkeiten der Dokumentation anno 1955 eher spärlich waren; niemand hat sich jedenfalls die Mühe gemacht, die lederbezogene
Agfa
-Kamera der Mutter in das Krankenhaus einzuschleusen – denn so anstaltsmäßig, wie das Gebäude aussah, geduckt, verwittert und streng, musste man grundsätzlich das Gefühl haben, man schmuggle Kassiber ein anstelle von frohen Gaben oder rechtmäßig erworbenen Fotoapparaten –, sodass es heute der Einbildungskraft überlassen ist, sich das puppengroße Wesen vorzustellen, das wimpernlos im Steinbettchen irgendwem und irgendetwas trotzte, indem es nicht starb.
    Ich würde gern einmal eine der Nonnen treffen und befragen. Diejenigen, die damals Anfang zwanzig waren, sind jetzt in ihren Siebzigern. Ich würde sie fragen: Was lag da, beschreib es mir! Ein Geschöpfchen oder ein abgeschafftes Satzzeichen? Nein, natürlich nicht, so würde ich nicht mit ihr sprechen, das wäre zu schnoddrig und zu exzentrisch. Also: Was lag da? Und sie würde irgendetwas mit
aller Anfang ist schwer
sagen, oder so winzig, dass es in die Hand gepasst hätte. – Hand Gottes? – Nein, mein Kind, die ist zu groß, sie ist für alle da. – Dachte ich es mir doch, in welche dann? – In die von Schwester Hilde, stolze einsfünfundsiebzig, Schuhgröße 42, wenn sie durch die Gänge lief, grüßten selbst die Wände. – Lebt sie noch? – Nein, mein Kind, sie wurde schon gerufen. – Ich will auch gerufen werden, aber nur von einer echten Stimme.
    Während der zwei Monate, die ich hinter Kloster-, vielmehr Krankenhausmauern lag, kam zwei Mal ein katholischer Priester. Die Nonnen hatten ihn alarmiert, weil sie dachten, es ginge zu Ende. Zu der Zeit war ich ungetauft, vorgesehen war mir allerdings ein protestantisches Heranwachsen. Wer weiß, welche Saat die letzten
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