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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition)
Autoren: Dagmar Leupold
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darum, sie nach dem Gedächtnis zu zeichnen.
    Ich kenne ein gutes Piercing-Studio, ich kann Sie dorthin begleiten.
    Lotte greift nach ihrer Bernsteinkette.
    Und ich sage vermittelnd, zur Abmilderung des Schrecks, den ihr das bedrohliche Wort eingeflößt hat, dass wir sicherlich einen guten Juwelier finden würden für unser Vorhaben.
    Ein schönes Geklapper hebt an, Töpfe, Pfannen, von Anja und Parwiz mit Eifer und Kennermienen bewegt, geöffnet, verschoben, Dampfen, Zischen; das Getöse kann mit dem der koch- und sinnesfreudigen Nachbarin durchaus mithalten (die hat sich kurz am Gartenzaun blicken lassen, einen Piccolo in der Hand,
auf euer Wohl!
Muss die denn immer alle duzen? Dennoch hebt auch Lotte ein leeres Wasserglas und prostet zurück). Dann transportiert sie Teller und Besteck portionsweise auf dem Ablagebrett ihres Rollators zum Esszimmer, auf dessen Benutzung sie bestanden hat. Küche? Mit Gästen? NEIN! Ebenso wie die weiße Tischdecke, das gute Geschirr, die Kristallgläser. Unter jedem ein Untersatz, worauf ein Ortsname und eine Stadtansicht zu erkennen sind: Kreis Heiligenbeil, Quilitten und all die anderen. Lottes Vaterunser.
    Als wir uns im Flur begegnen, zieht mich Lotte in den Windfang und fragt: Kann ich so bleiben oder muss ich mich umziehen?
    Ich antworte und falle dabei in einen halben Sprechgesang, ja, ich sage alles mit der Zwangsläufigkeit eines Gebets auf, in unabänderlicher Beschwörungsabfolge, fühle mich dabei grotesk dem Berufsbild des Coachs nah, ich sage Lotte also, dass das helle Grün ihres Pullovers besonders gut zu den Augen passe, dass sie eine Figur hätte wie ein junges Mädchen, dass ihre Haare schön gelegt worden seien und ihr Hosen ausgezeichnet stehen würden. Dass Heinrich ein guter Freund sei, der auf Äußerlichkeiten keinen Wert lege, auf Formen sehr wohl.
    Umso besser, dass ich im Esszimmer gedeckt habe, sagt Lotte, legt einen Frisierumhang um und kämmt sich vor dem Flurspiegel. Wann habe ich einen Frisierumhang zuletzt gesehen? Wird dieses luftige, beschleifte und geblümte Ding überhaupt so genannt? Es gehörte jedenfalls zu den Gegenständen, die sich auf der Garderobenablage der Großeltern versammelten, wie die Kleiderbürste, ihre kleine Schwester, die Hutbürste, Schuhlöffel und eben der Frisierumhang. Utensilien für Zurichtungen, die notwendig waren beim öffentlichen Auftritt, und sei es lediglich derjenige im Lebensmittelladen gegenüber. Wie eine Böe erfasst mich die Erinnerung an meine Großmutter, die, solcherart gespornt, als Letztes die Prothese in den Mund schob und damit auf einmal mit einem Lächeln angetan war, das verglichen mit dem häuslichen, eingefallenen, welches mir um vieles lieber war, offiziell wirkte. So machte sie sich auf den Weg zu ihren kleinen und großen Erledigungen. Ich war als Begleiterin willkommen, und die Musterung auf Eignung fiel nur halb so streng aus wie die mütterliche. Lotte ist entschieden meiner Mutter ähnlicher.
    Lotte legt den Umhang ab und fragt, ob ich daran gedacht hätte, ihr einen Vergrößerungsspiegel mitzubringen. Ich habe es vergessen, und Lotte macht ein frohes Gesicht, anstatt missmutig zu sein. Dann müssen Sie mir helfen!
    Wir schließen uns im Badezimmer ein, die Deckenbeleuchtung wird eingeschaltet, und Lotte drückt mir eine Pinzette in die Hand: Entfernen! Sie deutet auf Kinn und Oberlippe, wo sich im Neonlicht deutlich Barthaare zeigen, schwarz, drahtig. Ich würde gern desertieren, abhauen, mich auflösen, in einer Erdspalte verschwinden. Aber Lotte ist ungeduldig, los, los, worauf warten Sie?
    Und so reiße ich dieser Großmutter die unwillkommenen Haare aus, eins nach dem anderen, die Altweiberborsten, denen ihr ganzer Ingrimm gilt, während sie mit geschlossenen Augen urgeschichtlich fern aussieht und den Teufel nicht fürchtet. Gerüstet kehren wir in die Küche zurück, unterwegs schließe ich mich in der Toilette ein und sprühe
Sagrotan
über meine Hände. Dabei fällt mir ein, dass mir eine Verkäuferin bei meinem letzten Besuch in einer Parfümerie einen Herrenduft als Pröbchen schenken wollte und ich, mit der Begründung, ich sei herrenlos, ablehnte. Mit einem kurzfristig ihrer Regie entzogenen Gesichtsausdruck ließ ich sie stehen.
    Anja und Parwiz stecken über dem Herd die Köpfe zusammen, sie sehen in diesem Moment aus wie ein mythisches Zwillingspaar, mit ihren dunklen, geheimnisvollen Schöpfen, den schwingenhaft ausgebreiteten Augenbrauen, den sorgfältig gemeißelten
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