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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag
Autoren: Stephen King
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Prolog
    I ch war nie das, was man eine Heulsuse nennt.
    Meine Exfrau gab meinen »nicht vorhandenen emotionalen Gradienten« als Hauptgrund dafür an, dass sie mich verließ (als ob der Kerl, den sie bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hatte, ganz nebensächlich wäre). Christy sagte, sie könne mir zur Not verzeihen, dass ich auf der Beerdigung ihres Vaters nicht geweint habe; ich hätte ihn nur sechs Jahre gekannt und könne daher nicht sehen, was für ein wundervoller, großzügiger Mensch er gewesen sei (was beispielsweise ein Mustang-Cabrio zum Highschool-Abschluss bewies). Aber als ich auch auf den Beerdigungen meiner Eltern nicht weinte – sie starben im Abstand von nur zwei Jahren, Dad an Magenkrebs, Mutter an einem Herzschlag bei einem Strandspaziergang in Florida –, begann sie die Sache mit dem nicht vorhandenen Gradienten zu verstehen. »Ich war unfähig, meine Gefühle zu fühlen«, wie es im AA -Sprech hieß.
    »Ich habe dich niemals weinen sehen«, sagte sie in dem ausdruckslosen Tonfall, in dem einem in einer Beziehung der andere den ultimativen Trennungsgrund verkündete. »Nicht mal, als du mir erklärt hast, ich müsste eine Entziehungskur machen, sonst würdest du mich verlassen.« Dieses Gespräch hatte etwa sechs Wochen vor dem Tag stattgefunden, an dem sie ihre Sachen packte, sie quer durch die Stadt karrte und bei Mel Thompson einzog. »Mann trifft Frau auf dem AA -Campus« – das ist eine weitere Redensart, die sie bei diesen Meetings haben.
    Ich habe nicht geweint, als wir uns verabschiedeten. Ich habe auch nicht geweint, als ich wieder in das kleine Haus mit der großen Hypothek ging. In das Haus, in das nie ein Baby gekommen war und in das nun auch niemals eines kommen würde. Ich legte mich nur auf das Bett, das jetzt mir allein gehörte, und legte einen Arm über die Augen und trauerte.
    Tränenlos.
    Aber ich bin nicht emotional blockiert. In diesem Punkt hatte Christy unrecht. Als ich neun war, erwartete meine Mutter mich eines Tages an der Haustür, als ich aus der Schule kam. Sie erzählte mir, dass Rags, mein Collie, von einem Laster totgefahren worden sei und der Fahrer sich nicht einmal die Mühe gemacht habe anzuhalten. Später, als wir ihn begruben, habe ich nicht geweint, obwohl mein Dad mir versicherte, niemand werde deswegen schlecht von mir denken. Aber als sie mir erzählte, was passiert sei, da habe ich geweint. Teilweise, weil dies meine erste Erfahrung mit dem Tod war; hauptsächlich, weil es meine Aufgabe gewesen war, dafür zu sorgen, dass Rags immer sicher im Garten hinter unserem Haus eingesperrt war.
    Und ich weinte, als Mutters Arzt anrief und mir mitteilte, was an jenem Tag am Strand geschehen sei. »Tut mir leid, aber sie hatte keine Chance«, sagte er. »Es passiert manchmal ganz plötzlich, aber wir Ärzte tendieren eher dazu, das als Segen zu betrachten.«
    Christy war an diesem Tag nicht da – sie musste länger in der Schule bleiben und mit einer Mutter reden, die Fragen zum letzten Zeugnis ihres Sohnes hatte –, aber ich weinte tatsächlich. Ich ging in unseren kleinen Wäscheraum und zog ein gebrauchtes Bettlaken aus dem Korb und weinte hinein. Nicht lange, aber mir kamen wirklich Tränen. Ich hätte ihr später davon erzählen können, aber ich sah keinen Sinn darin, teils weil sie geglaubt hätte, ich wollte Mitleid schinden (das ist kein AA -Ausdruck, aber es sollte vielleicht einer sein), und teils weil ich nicht finde, dass die Fähigkeit, praktisch auf Kommando loszuheulen, zu den Voraussetzungen für eine gute Ehe gehören sollte.
    Wenn ich’s mir recht überlege, habe ich meinen Vater niemals weinen sehen; in seinen emotionalsten Augenblicken seufzte er vielleicht schwer oder grunzte ein paar widerstrebende Lacher – für William Epping gab es kein Sich-an-die-Brust-Schlagen oder dröhnendes Lachen. Er war der starke, schweigsame Typ, und meine Mutter weitgehend ebenso. Vielleicht ist die Tatsache, dass ich nicht leicht weine, also genetisch bedingt. Aber blockiert? Unfähig, meine Gefühle zu fühlen? Nein, beides war ich nie.
    Abgesehen von dem Tag, an dem ich vom Tod meiner Mutter erfuhr, kann ich mich an nur ein einziges Mal erinnern, dass ich als Erwachsener geweint habe, und das war, als ich die Geschichte von dem Vater des Hausmeisters las. Ich saß allein im Lehrerzimmer der Lisbon High School und arbeitete einen Stapel Aufsätze durch, die meine Klasse »Englisch für Erwachsene« geschrieben hatte. Vom Ende des Korridors her
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