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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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Probleme anderer diagnostizieren, aber ihm selbst fehlte
natürlich nie etwas. Doch Anfang Juni hatte er plötzlich Schwierigkeiten mit
dem Schlucken, und der Arztbesuch ließ sich nicht länger hinausschieben.
    Die Ärztin überwies Udi sofort zu einer
Endoskopie an unser Krankenhaus, das Royal Free in Hampstead. Da Udi gleich
danach eine Konferenz hatte, bestand er darauf, dass die Untersuchung in seinem
Hals ohne Betäubung und ohne jedes Beruhigungsmittel gemacht wurde. Als er
herauskam, war er ziemlich groggy, und ihm war sehr übel. Ihm war klar, dass
irgendetwas nicht in Ordnung war, und er fürchtete, es könne ernst sein.
    Nach einigen Minuten rief der Oberarzt
uns in sein Sprechzimmer, wo er uns mit den ernüchternden Worten begrüßte: »Es
tut mir schrecklich leid.« Er sagte, Udi habe Speiseröhrenkrebs, und die
Prognose sei leider nicht gut. Kurzfristig stünde ihm eine schwere Operation bevor,
um einen großen Teil seiner Speiseröhre zu entfernen, aber selbst damit seien
seine Aussichten auf Heilung äußerst gering.
    In Wirklichkeit erwies sich die
Diagnose — leider aber nicht die Prognose — als falsch. Der kleine Tumor, den
der Facharzt in Udis Speiseröhre gefunden hatte, war nur die Spitze des
Eisbergs, oder vielmehr des großen Tumors, der sich über Jahre hinweg in Udis
Magenschleimhaut gebildet hatte. Als er endlich entdeckt wurde, hatte er die
Magenwand bereits durchbrochen und war so groß wie ein Ziegelstein. Wie
Professor Marc Winslett, Udis tüchtiger und weltmännischer Chirurg, nach
weiteren Kernspintomogrammen feststellte, hatte Udi einen linitis plastica, eine seltene Form von Magenkrebs, und zwar bereits Stufe IV. Die Aussichten
hätten gar nicht schlimmer sein können.
    Ende August entfernte Winslett in einer
sechsstündigen lebensgefährlichen Operation den riesigen Tumor, zusammen mit
Udis gesamtem Magen. Dann machte er ihm aus einem Stück Darm einen winzig
kleinen falschen Magen. Von nun an würde Udi nur noch winzige Portionen essen
können und stark abnehmen, wie jemand, dem man ein Magenband angelegt hatte.
»Du wolltest doch immer einen schlanken Mann«, neckte er mich, als ich auf dem
Weg zum OP neben ihm herging. »Jetzt bekommst du endlich einen.«
    Er war nie ein einfacher Patient
gewesen. Sowie mein dickköpfiger Mann auf der Intensivstation aufwachte,
verlangte er, im Namen der freien Persönlichkeitsentfaltung, nach einer
Zigarette. Vergeblich protestierten die Schwestern, dass a) eine Selbstgedrehte
das Letzte war, was er jetzt brauchte, b) das Krankenhaus eine rauchfreie Zone
war, c) der Rauch andere Patienten auf der Station umbringen könnte und d)
dass, wenn er sie anzünden würde, während gleichzeitig reiner Sauerstoff in
seine Nase geleitet wurde, er wahrscheinlich explodieren würde. Obwohl er nach
seiner langen Narkose kaum bei Bewusstsein war und an unzählige Monitore und
Infusionsgeräte angeschlossen war, piesackte er die Schwestern der
Intensivstation so lange, bis sie es endlich nicht mehr ertragen konnten und
ihn einen ganzen Tag früher als geplant auf die Magen-Darm-Station
zurückschickten.
    Und ein paar Tage später, kurz nachdem
ich mich bei ihm verabschiedet hatte, verließ Udi unbemerkt die Station. In
seiner überschwänglichen Freude, die Operation überlebt zu haben, war er
entschlossen, keine weitere Minute seiner verbleibenden Zeit mit dem Anstarren
langweiliger Krankenhauswände zu verschwenden. Er war vom Brustbein bis zum
Nabel von Metallklammern zusammengehalten und trug nichts weiter als
Schlafanzug und Bademantel, aber er bat einen fremden Besucher, ihn das kurze
Stück mitzunehmen, und kam zu Hause an. Ohne Schlüssel, und es war niemand da. Er
vermutete, dass Joshua und ich bei meiner Schwester waren, die gleich um die
Ecke wohnte (womit er richtig geraten hatte), lief barfuß dorthin und
überraschte uns alle. Mit einem Glas Orangensaft in der Hand, ein Bein lässig
über das andere geschlagen und von seiner Familie umgeben, lachte und scherzte
er, als sei er in Topform. Er schien umschlagbar.
    Zehn Monate später war er tot. Was der
Onkologe als »aggressive« Chemotherapie beschrieben hatte — wobei er allerdings
gleichzeitig zugegeben hatte, dass er nicht wusste, ob es etwas nützen würde — ,
hatte Udi weder die Wunderheilung gebracht, die er erhofft hatte, noch sein
Leben um die zwei bis drei Jahre verlängert, mit denen er mindestens gerechnet
hatte. Vielmehr hatte es nicht mehr bewirkt, als die Flut der Krebszellen,
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