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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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feuchte Selbstgedrehte, die mehr wie ein
schlecht gerollter Joint aussah als die Zigarette, die es tatsächlich war.
Während Udi sie rauchte, wobei er die Asche überall hinfallen ließ außer in den
makellosen, leeren Aschenbecher vor sich, kamen kleine Rauchwölkchen aus seinen
Nasenlöchern, die in die Fuft stiegen und als eine Art nebliger Heiligenschein
über seinem Kopf schwebten.
    Wenn Joshua und ich nun in diesem
November unsere Straße entlanggingen, fühlte ich mich innerlich bleischwer.
Unser Haus lag still und dunkel da. Kein einziges Ficht in der Küche, kein
Robbie Goltrane oder Gypsy King drang durch die Fenster. Ich plauderte
krampfhaft fröhlich mit Joshua, als wir den Weg entlang zum Haus gingen, und
hoffte, er würde es nicht merken, wie anders jetzt alles im Gegensatz zu früher
war. Aber so leicht war er nicht zu täuschen.
    »Wie war’s heute im Sportunterricht,
Schatz?«
    »Es war nicht Sport, es war Fußball. Und es fiel aus wegen Regen.«
    »Ach. Wie schade! Und was habt ihr
stattdessen gemacht?«
    »Nichts.«
    »Gar nichts? Hatte Miss Sandra keine
andere Idee?«
    »Sie hatte zu tun. Wir haben nur im
Klassenzimmer rumgespielt.«
    »Das hat doch sicher auch Spaß gemacht.
Und hast du viele Hausaufgaben heute?«
    »Bloß bisschen Mathe. Warum fragst du
das alles?«
    »Weil es mich interessiert.«
    »Warum? Es ist doch nur Schule, Mama.
Und du fragst jeden Tag dasselbe.«
    Ich drehte den Schlüssel in der Tür
herum, aber ohne jede Freude. In den letzten fünf Monaten hatte ich
festgestellt, dass es nicht viel gab, das noch trostloser war, als in ein
leeres Haus zu kommen. Als Udi noch da war, war unser Haus fast aus den Nähten
geplatzt. Aber statt des Wirbelsturms, den er stets um sich verbreitete,
herrschte jetzt eine unheimliche Stille in unserer viktorianischen
Maisonettewohnung. Ich schwatzte weiter und erzählte Joshua, was ich an diesem
Tag alles gemacht hatte, während ich schnell alle Lichter einschaltete, die
Holzläden vor den dunklen Fenstern schloss und das Gasfeuer im Kamin anzündete.
Ich suchte im Radio einen Sender mit Rockmusik und schaltete zu allem Überfluss
auch noch den Fernseher ein. Ich tat das alles, um Udis fast greifbare
Abwesenheit zu überspielen — eine Abwesenheit, an die der leere Stuhl mit den
Armlehnen am ebenfalls leeren Küchentisch mich nur zu deutlich erinnerte, der
Stuhl, der einst sein Thron war, der von allen respektiert wurde.
    Udi war vor fünf Monaten gestorben, mit
sechsundfünfzig Jahren. Er war dreizehn Jahre vorher wie ein menschlicher
Tornado in mein Leben gefegt, in einem pelzbesetzten Mantel, den er in einem
Oxfam-Laden gekauft hatte, dazu trug er einen schwarzen Hut, den ihm der
amerikanische Schriftsteller Saul Bellow geschenkt hatte. Ein extrovertierter
Mitteleuropäer, der geradezu vibrierte vor joie de vivre, ein
vielbeachteter Produzent von Dokumentarsendungen und intelligenten Reportagen
fürs Fernsehen; gleichzeitig machte er eine Ausbildung als Psychotherapeut, was
er im Nebenberuf ausüben wollte. Udi war brillant, charismatisch und provokant,
und er hatte eine große rednerische Begabung. Seine Interessen erstreckten sich
von Kunst bis zum Windsurfen, und er konnte sich stundenlang über alle
möglichen Themen unterhalten, egal ob es sich um Außenbordmotoren,
Schizophrenie oder postmoderne Literatur handelte. Wenn es eine Beschreibung
gab, die auf ihn mit Sicherheit nicht zutraf, dann war es langweilig.
    Udi brachte es fertig, jeden Raum zu
beherrschen, egal ob er sich in einem Büro, in einer Küche oder bei einer
Einladung zum Essen befand, eine Gelegenheit, bei der es ihm immer ein
besonderes Vergnügen bereitete, die bequemen, festgefahrenen Ansichten der
anderen Gäste durch seine geschickt geführte Argumentation auf den Kopf zu
stellen. Er war kein intellektueller Snob, sondern behandelte alle Menschen mit
dem gleichen Respekt: von Schriftstellern wie Bellow, den er durch seine Arbeit
als Fernsehproduzent kennengelernt hatte, bis zu Joseph, dem äthiopischen
Taxifahrer, mit dem er befreundet war. Udi verbrachte Stunden und manchmal
ganze Monate damit, Freunden und Bekannten bei der Lösung ihrer privaten
Probleme zu helfen. Er war aufrichtig interessiert an allen Menschen, die er
kennenlernte.
    Vielleicht verschenkte er sich so
großzügig und lebte sein Leben mit einer solchen Begeisterung, weil seine
eigene Kindheit sehr schwer gewesen war. Er war 1942 im von den Nazis
annektierten Österreich geboren, und Gertie, seine
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