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Unser Leben mit George

Unser Leben mit George

Titel: Unser Leben mit George
Autoren: Judith Summers
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selbstverliebte
siebzehnjährige Mutter, hatte in den darauf folgenden sechs Jahren ebenso viele
Ehemänner verbraucht. Zu seinem leiblichen Vater hatte Udi wenig Kontakt.
Außerdem hatte Udi einen Klumpfuß.
    Als er dreizehn war, schickte seine
Mutter den verstörten Jungen für vierzehn Tage nach England zu seinem Onkel
Gus, der ein böhmisches Restaurant mit Jazzclub in der Londoner Fulham Road
besaß. Gus war der einzige ihrer Exmänner, der sich für Udi interessierte. Zu
seinem Entsetzen verkündete Udi jedoch nach Ablauf der zwei Wochen, dass er
sich weigere, nach Hause zurückzufahren, sondern in England bleiben wolle. Gus
warf ihn mit fünf Pfund in der Tasche hinaus, und Udi wandte sich an das Innenministerium.
Er fühle sich als Engländer, nicht als Österreicher, erzählte er denen da oben,
und er wolle für immer hierbleiben.
    Das Innenministerium war Mitte der
Fünfzigerjahre eine sehr andere Behörde als die streng regulierte,
bürokratische Maschinerie, die es heute ist. Ratlos und vielleicht auch ein
wenig amüsiert über die Entschlossenheit dieses dreizehnjährigen Österreichers,
gewährte man ihm tatsächlich die Erlaubnis zu bleiben. Und nicht nur das, man
kümmerte sich auch um ihn. Nachdem er zunächst sechs Monate lang in eine Art
Erziehungsanstalt gesteckt worden war — man wusste einfach nicht, wohin mit ihm
bekam Udi einen Platz in einem staatlichen Internat, das dem Londoner Jugendamt
unterstand. Es war eine wunderbare Schule namens Woolverstone Hall in der Nähe
von Ipswich. Nach seinem Schulabschluss studierte Udi
Wirtschaftswissenschaften, danach kam er zur BBC, wo er ein Ausbildungsprogramm
für Hochschulabsolventen durchlief.
    Anfangs war Udi nicht der perfekte
Mann, den meine Eltern sich für ihre kostbare jüngste Tochter erträumt hatten.
Sie waren einfach noch nie jemandem wie ihm begegnet — das waren wenige — , und
sie wussten nicht, was sie von ihm halten sollten. Udi war elf Jahre älter als
ich und hatte sich vor kurzem nach vierundzwanzigjähriger Ehe von seiner Frau
Diana getrennt. Da er mit neunzehn Jahren geheiratet hatte, hatte er bereits
zwei erwachsene Töchter, Tabby und Hannah, die in einer ziemlich eigenwilligen
Kommune im Londoner Stadtteil Kew aufgewachsen waren, in der Psychotherapie
eine große Rolle spielte. Udi fuhr ein altes Motorrad, wobei er einen
zerbeulten Sturzhelm, ein Hemd mit Blumenmuster und hautenge Motorradhosen
trug, die mein Vater spöttisch seine »Lederhosen« nannte. Seine Schuhe waren
grün, wie die eines irischen Kobolds. Er war Kettenraucher und nie ohne eine
Selbstgedrehte zu sehen, deren Asche er wie in einer Art Segensgebärde auf
alles fallen ließ, auf Teppiche, Tische und Kleider. Seine Gesprächsthemen
reichten von Nietzsche und Libertanismus bis zu den intimsten Fragen,
beispielsweise eröffnete er ein Gespräch mit Fremden gern mit der Aufforderung
»Erzählen Sie mir von Ihrem ersten sexuellen Erlebnis«. Und das Merkwürdige
war, die meisten taten es. Fragen dieser Art mochten bei den Londoner Literaten
okay sein, aber in der konventionellen jüdischen Mittelschicht reagierte man
auf diese Art von persönlichem Verhör mit tiefem Misstrauen, um nicht zu sagen
mit Empörung.
    Aber ich war bereits in den Dreißigern
und immer noch unverheiratet, also akzeptierten meine Eltern Udi schließlich.
Und als ihr erstes Enkelkind Joshua geboren war, konnte Udi in ihren Augen
nichts mehr falsch machen. Im Laufe der Zeit schlossen sie meinen verrückten
und überaus gastfreundlichen Lebensgefährten richtig ins Herz und er sie
ebenfalls.
    Obwohl er übergewichtig war, wie ein
Schornstein qualmte und literweise starken schwarzen Kaffee trank, schien Udi
immer bei bester Gesundheit zu sein, folglich stießen meine ewigen Warnungen
bezüglich Übergewicht, Herzinfarkt und Lungenkrebs auf taube Ohren. Aber im Mai
1997 fühlte er sich plötzlich sehr schlecht und sah krank aus. Seine Haut war
grau und er klagte über Schmerzen in der Brust, behauptete aber, es komme nur
vom Magen. Oft kam er von der Arbeit heim, fiel aufs Sofa und schlief sofort
ein. Das war höchst ungewöhnlich für diesen menschlichen Dynamo, der gewöhnlich
erst um drei Uhr morgens zu Bett ging und vier Stunden später frisch und voller
Tatendrang wieder aufstand.
    Es bedurfte meiner ganzen
Überredungskunst, damit er endlich einen Arzt aufsuchte. Als voll ausgebildeter
Psychotherapeut und verhinderter Arzt konnte Udi stundenlang die medizinischen
und psychischen
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